Gedanken zur Zeit (21)

November 2024

Alexander von Humboldt
Zur Biographie von Andrea Wulf (Dt. Ausgabe 2016)

Alexander v. Humboldt verurteilte lebenslang kompromisslos die Sklaverei in aller Welt gegenüber Präsidenten und Königen.

Er deckte auf und verurteilte die Naturzerstörung in Südamerika durch die Regierungen der spanischen Kolonisten, wie z.B. die Rodungen der Wälder, die Monokultur und den Raubbau an Bodenschätzen.

Er sah als erster den Zusammenhang zwischen Wirtschaft, Politik, Umwelt und Naturschutz durch das Bewusstsein der Einheit von Wahrnehmung, Gefühl und Gedanken in der Naturbetrachtung. Deshalb trat er für die Einheit des wissenschaftlichen Arbeitens ein.  

Er hatte ein unbestechliches liberal-demokratisches Politikverständnis, favorisierte das parlamentarische System und bekämpfte den Nationalismus und die Diktatur von Königen und Präsidenten.

Er unternahm mit seinem Freund Bonpland folgende Reisen: 1799/1800 nach Venezuela über die Llanos-Ebene, in die Regenwälder am Orinoco; 1801/1802 über die Anden nach Ecuador, Bolivien und Peru; bestieg 1802 den Vulkan Chimborazo bis zu einer Höhe von 5917 m, d.h. bis zu 300 Metern unter dem vereisten Gipfel; 1803/1804 nach Mexiko und Nordamerika und später, 1829, nach Rußland bis zum Altai-Gebirge und dem Kaspischen Meer.
Über alle diese Reisen liegen Berichte von Humboldt und Freunden vor.

A.v. Humboldt lebte etwa zehn Jahre in Paris mit Unterbrechungen zwischen 1805 und 1845. Dort publizierte er seine frühesten Forschungs- und Reisberichte, hielt Vorträge und war der populärste Wissenschaftler seiner Zeit. Seine Hauptwerke aber entstanden seit 1827 an seinem Wohnsitz Berlin. Er erlebte aber auch die politischen Verhältnisse unter Napoleon und der postnapoleonischen Ära und die Revolution von 1848 in Berlin. Obwohl Kritiker der Monarchie, erhielt er vom preußischen König, der ihn sehr schätzte, eine jährliche Pension, aber ohne politische Verpflichtungen eingehen zu müssen. Alexander v. Humboldt starb 89jährig (!). Sein Begräbnis war das größte gesellschaftliche Ereignis in Deutschland seit langen Zeiten.

Der riesige Briefwechsel mit politischen Herrschern und Adeligen, darunter mit den amerikanischen Präsidenten Jefferson und Madison und mit Wissenschaftlern vieler Staaten, mit Schriftstellern, sowie mit seinem Bruder Wilhelm ist eine Hauptquelle der Biographie von Andrea Wulf.

Das hier Gesagte ist vielleicht die Quintessenz des Lebenswerks dieses Genies, das Andrea Wulf in ihrem wunderbaren Buch vor uns ausbreitet.

Natürlich können wir in diesem Buch die abenteuerlichen Reisen v. Humboldts mit verfolgen. Dabei verliert die Biografin nie das humanistische und wissenschaftliche Anliegen dieses Genies aus den Augen. Denn ein Genie war er wahrlich: Er konnte viele Sprachen sprechen, verständigte sich mühelos mit anderen bedeutenden Persönlichkeiten, Wissenschaftlern, Künstlern und Schriftstellern  seiner Zeit, z.B. mit Goethe, den er mehrmals traf, war von enormer Zielstrebigkeit in seinen empirischen Naturforschungen, betrachtete im Kleinsten der Tier- und Pflanzenwelt stets den großen kosmischen Zusammenhang, war zu  unglaublichen physischen und seelischen Leistungen bei der Durchquerung der Regenwälder, der Hochgebirge, den Kanureisen auf gefährlichen Flüssen und dem Überstehen von Tropenkrankheiten in der Lage und konnten gleichzeitig bei allen Strapazen seine Beobachtungen notieren und später zu Büchern werden lassen, die eine gewaltige Popularität auch beim Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts errangen. Und wo er nicht schrieb, hielt er Vorlesungen, wie z.B. 1827 in Berlin in der Singakademie, die   das einfache Publikum und den königlichen Hof faszinierten.

Den Geist v. Humboldts trifft die folgende Textstelle der Biographie, an der es um das später so berühmte „Naturgemälde“ geht. Diese Skizze, die vor Ort entstand, „zeigt den Chimborazo im Querschnitt und die Natur als ein Netz, in dem alles mit allem verbunden ist“ Dabei hat er in die Umrisse des Vulkans die Namen von Pflanzen, Pilzarten, Flechten und Baumarten je nach der Höhenlage eingetragen.
Dies „Naturgemälde“, etwa 90 X 60 Zentimeter groß, hat er später seitlich mit Angaben über Feuchtigkeit, atmosphärischen Druck, Temperaturen usw, eingetragen, in Pflanzenzonen gegliedert und zusätzlich mit Vergleichshöhen anderer Berge beschriftet. Von diesem „Naturgemälde“ sind im Lauf der späteren Jahre Kopien gemacht worden, die inzwischen käuflich zu erwerben sind.

Über dieses „Naturgemälde“ schreibt Andrea Wulf:
Wir sehen ein `belebtes Naturganzes` schrieb er (A.v.H.) später, kein `totes Aggregat`. Ein einziges Leben ergoss sich über Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen. Diese `allverbreitete Fülle des Lebens` hat Humboldt tief beeindruckt. Selbst die Atmosphäre trägt Keime zukünftigen Lebens in sich – Pollen, Insekteneier und Samen. Das Leben war überall, schrieb Humboldt, und die organischen Kräfte sind `unablässig bemüht, neue Gestalten` hervorzubringen. Humboldt war nicht so sehr daran interessiert, neue einzelne Fakten zu entdecken, sondern suchte vielmehr nach der Verbindung zwischen ihnen. Das individuelle Phänomen ist nur von Bedeutung `in seinem Verhältnis zum Ganzen“, erklärte er.“

Im zweiten Teil der Biographie geht Wulf auf die Arbeit von Wissenschaftlern ein, deren Denken und Forschen von Humboldt beeinflusst wurden.
Dazu gehören der Amerikaner John Muir, der die Wälder als große Schöpfung Gottes würdigte und für ihren Schutz kämpfte. Er beschrieb in seinen Büchern, wie er mit der Natur zu sprechen gelernt habe und wie sie ihm antworte. Er sorgte 1906 mit Hilfe des US-Präsidenten für den Nationalpark Yosemite Valley. Muir reiste auf den Spuren Humboldts nach Südamerika, und weiter nach Amazonien. Georg Perkins Marsh war in den USA ein Pionier des Umweltschutzes. Sein Buch „Man and Nature“ von 1863 sah damals schon die planetarische Gefahr der Naturzerstörung voraus. Berühmt wurde auch David Thoreau, der in seinem Buch „Walden“ ebenfalls Kritik an der um sich greifenden Waldzerstörung durch Prairien erhob. Der bedeutendste von Humboldt beeinflusste Naturforscher wurde aber Charles Darwin. Beide wurden enge Freunde und tauschten ihre Erkenntnisse über „die Entstehung der Arten“ aus und sahen, dass ihr Denken auf Goethe zurückging. Auch Ernst Haeckel wurde inspiriert von Humboldt. Er entdeckte die Wunderwelt der Radiolarien und Strahlentierchen  unter dem Mikroskop und bestätigte Humboldts Ansicht vom „Netz des Lebens“, dass sich die Zelle aus eigener Kraft selbst entwickle; er spricht von einem „unbewussten Zellgedächtnis“, das wisse, wie das Leben weitergehe, z.B. beim Aufbau der Kieselskelette. Berühmt wurde Heckel auch durch die Zeichnungen, mit denen er die Welt der Quallen, Radiolarien und Kalkschwämme in Büchern illustrierte. Ihre Strukturen spielten eine Rolle für die Kunst und Ornamentik des Jugendstils.

Die Beliebtheit Alexander von Humboldts in der wissenschaftlichen Welt hat auch mit seiner großzügigen finanziellen und ideellen Unterstützung junger Nachwuchsforscher zu tun. Er selber lebte eher bescheiden. Die Gewinne durch den Verkauf seiner Bücher, vor allem der vier Bände seines Hauptwerks „Kosmos“ (1850 bis 1854) gab er für den Kauf der Messinstrumente, der Ausrüstung der Forschungsreisen, des Unterhalts der Mitarbeiter und für andere, weniger begüterte Kollegen aus.

Das apollonische Wesen V. Humboldts, mit dem Lorbeer des Ruhms bekränzt, kann leicht das beschädigte Leben in seiner Kindheit vergessen machen, das später sich in psychischen Belastungen auswirkte. Wulf erwähnt den frühen Tod des geliebten Vaters. Besonders traumatisierend war für ihn das Verhältnis zur Mutter. Sie ging mit dem Kind „formell, kalt und distanziert“ um. Ein großer, unerbittlicher Leistungsdruck und Perfektionismus, die Normen des Hochadels zu erfüllen, beschädigte die Seelen des jungen Alexander und des älteren Bruders Wilhelm. Alexander versuchte so oft er konnte, seinem Zuhause und der Familie in die Natur zu entfliehen.  Wulf schreibt über die Mutter: „das seelische Wohlbefinden ihrer Söhne habe sie offenbar nicht interessiert“. In einem Brief an Goethe, den Wulf erwähnt, schrieb Alexander später, er habe unter der Mutter nie das Gefühl gehabt, „er selbst zu sein“ und sie habe ihn gezwungen, ständig eine Rolle zu spielen. Niemand, so Wulf, habe im Haushalt der Humboldts „Begeisterung oder Freude zeigen“ dürfen.
Die seelischen Verletzungen kompensierte der hochintelligente Sohn durch „einen Schutzwall aus Spott und Ehrgeiz“. Auch die Sehnsucht nach Unabhängigkeit und nach Anerkennung und das „Gefühl seiner Überlegenheit“ gehört zu dem, was man heutzutage psychologisch das „falsche Selbst“ nennt. Der Preis, den er dafür zahlte, waren häufige Einsamkeit und vor allem die fehlende tiefe Verbindlichkeit in Beziehungen  zu einer Frau; die Trennungen von Liebesbeziehungen zu  Männern, trafen ihn jedesmal sehr schmerzlich. Einzig das Leben in der Natur empfand er als befreiend, beruhigend und tröstlich. Aber die Liebe zur Natur berührte in ihm nicht die spirituelle Empfindung, in ihr einen Schöpfer-Gott zu sehen.    

Andrea Wulf hat 10 Jahre an der Biographie gearbeitet und eine unglaubliche Fülle von literarischen und wissenschaftlichen Quellen ausgewertet. Sie ist dazu auch selber an Orte gereist, wo Humboldt lebte und arbeitete, so nach Venezuela und Ecuador. Sie bestieg sogar den Chimborazo bis zu einer Höhe von 5000 Metern.
Das tiefe Verständnis der Autorin für die Sensibilität und Humanität,  vor allem  das  Mitgefühl für das ökologische Fühlen und Denken dieses Genies, berührte mich als Leser nachhaltig. Das Buch ist in seiner Größe dem Leben und Werk Humboldts auf seine Art unübertrefflich.   

Gedanken zur Zeit (20)

April 2023

Francis Bacon und sein Gemälde „Studie George Dyers im Spiegel“  von 1968 in der Sammlung Thyssen-Bornemisza,  Madrid

Jedes Mal, wenn ich in einer Gemäldesammlung ein Bild von Francis Bacon sehe, bekommt mein Bildbewusstsein einen Schlag, als ob ein Magier meine Sinne aus dem Gleis geworfen hätte. Ich kann daher die Aussage des Schriftstellers und Kunstkritikers John Berger bestätigen, Bacons Gemälde würden aus eigener Kraft existieren und seien „von einer wirklich eindrucksvollen Gegenwärtigkeit“ (Katalog der Münchner Bacon-Ausstellung im Haus der Kunst 1966/67, Hatje-Verlag  München, S. 244)
Die Darstellungen des menschlichen Körpers fallen in den Gemälden Bacons total aus dem gewohnten Rahmen abendländischer Bildwerke, weil man an ihnen „die Fremdheit des Lebendigen“  an sich ohne Bezug zu anderen und Anderem besichtigen kann. (Laszlo Glozer, ebd. S. 273). Bacon malt die Körper im Moment  ihrer Bewegung, sie wie bei einem Fotoschnappschuss festhaltend. Aber was ist hier „Körper“?
Er ist von Kopf bis Fuß verdreht und verzerrt. Hat Bacon die Körperdeformierung in dem Moment, wo sie präformativ im Innern der Gestalt entsteht,  gesehen, ehe sie in einer anatomisch gewohnten Form festgestellt wird?  Besonders am Gesicht sieht man drastisch ins Rutschen gekommene Züge. Ich kenne keinen Künstler, der den Körper im Prozess des Entstehens  als unfertiges Wesen gemalt hat.

Der Körper des George Dyer sitzt  auf einem Drehstuhl und wendet sich abrupt nach rechts, wo in einem Standspiegel sein Gesicht im Profil erscheint, aber gewaltsam in zwei Hälften auseinander klaffend. Viel Raum nimmt der mit einem  Anzug bekleidete Mensch ein. Durch die Drehung  nach rechts entlang einer in dünnem Weiß angedeuteten Mittelachse bildet sich im Anzug eine eigene Faltenlandschaft. Mit schwarzen und grauen Pinsel sind kräftige Faltenwürfe und Stoffflächen des Jacketts gemalt, wobei die Malgrenze über die Körpergrenze hinausgeht. Unter dem Jackett wird ein weißes Oberhemd sichtbar. Das linke Hosenbein ist markant nach vorn auf den Betrachter zu geschoben, währen das linke Bein durch die Drehung ab dem Knie nach links dreht. Die Gesamtdrehung geht vom Kopf aus, der sich dem Spiegel zuwendet. Absurd mutet  der weiße länglich und dick aufgetragene Farbstrich, der vom rechten Knie quer waagerecht über das Bild bis zum Standbein des Stuhls geht. Eine befriedigende Erklärung habe ich in der Bildbeschreibung im Münchner Katalog nicht gefunden. Vielleicht fesselt dieser „Farbausrutscher“ den Leib der Person an den Spiegel so wie das Spiegelbild im oberen Teil des Bildes.
Das den Körper deformierende Moment, das so typisch für viele Bilder Bacons ist, findet sich im Gesicht der Person wieder. Seine Konturen sind verwischt, die Gesichtsflächen sind verschoben und unkenntlich gemacht bis auf Stirn, Haare und  Ohr. Man könnte meinen, die Person müsse sich im Spiegel anschauen, um sich zu vergewissern, dass sie noch ein Gesicht hat. Dagegen kann man bei den beiden Gesichtshälften, die in fleischlich-rötlichen Tönungen gemalt sind, noch von einem Gesicht im natürlichen Sinn sprechen – wäre da nicht die gewaltsame Spaltung in zwei Teile, so dass hier das Lebendige als ein prekäres Phänomen erscheint.
Die Figur ist in einem geometrisch  eingegrenzten, künstlichen und leeren Raum plaziert. Es ist ein toter Raum, nur von einem bläulich-gelblich getupften kreisrunden Teppich gefüllt. Die obere Hälfte nimmt eine hellblau-graue monochrom gemalte Rückwand ein. Sie bildet den Hintergrund für den Oberkörper und das Spiegelbild.
Der Raum gibt den sich verlierenden Figuren Haltegrenzen ; er ist etwas Künstliches, das die Aufmerksamkeit auf das Zentrale bündelt, aber auch nicht mehr. Herve Vanel schreibt zum Aspekt des Raums bei Bacon: er sei so konstruiert, dass er „jeden Gefühlszusammenhang auslöschen“ , „jegliches Pathos“ verbannen würde. Bedeutung hätten nur die Figuren, die im Raum positioniert sind.

Dieses Bild ist nicht eines der charakteristischsten Portraits und Trptychons von Bacon, wie z.B. das Triptychon „Three Studies of the Male Back“ von 1970, das im Kunsthaus Zürich hängt, und das ich auch gesehen habe.

Ich möchte jedoch einige ausgewählte Deutungen von Kritikern des Gesamtwerks von Bacon anfügen, um wenigstens eine Ahnung zu geben, welche existenzielle Botschaft Bacon über den Menschen aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg uns geben kann. Die folgenden Zitate sind den Essays im Katalog der Münchner Ausstellung entnommen.
Ernst von Alphen: In den Bildern fehle ein „Anderer“ als Zuschauer. Daher bleibe nur der Körper selbst als Subjekt der Wahrnehmung übrig …“Die Körper haben keinen Mittelpunkt kontrollierten Handelns“. „Fragmentierung des Körpers statt Stabilisierung des Körpers“ (S. 32ff)
Sam Hunter: Es werde der Raum zwischen Realem und Irrealem überschritten…Die Körper „schwelgen in den unerfreulichsten Ausdrucksformen des zeitgenössischen Lebens“…Bacon hatte die Gabe, „mit dem Entsetzlichsten in Kontakt zu treten“…Hunter sieht die „malerische Lebendigkeit“ im Zerfallen der Körper und dies würde das Dargestellte verdrängen. Damit verweist Hunter auf die Ästhetisierung des Entsetzlichen. (S. 245ff.)
Werner Spies kritisiert, dass eine Situation fehle, „die das Physiognomische – die Verletzung der Gesichter – definieren könnte“. Daher würden die Bilder in einem „expressiven Leerlauf“ enden und das Expressive selber negieren. (S. 271)
Laszlo Glozer: Bei Bacon könne man „Die Fremdheit des Lebendigen“ besichtigen. (S. 273ff.)
Eduard Beaucamp: Das Werk sei „Auflösung von Individualität“.

Gedanken zur Zeit (19)
30.04.2024

Ein Bild von El Greco im Prado-Museum in Madrid.

Die Verkündigung. Vom Hauptretabel des Colegio de Dona Maria des Aragon
(1597-1600)

Viele Bilder von El Greco haben mich magisch angezogen wegen ihrer aufwärts zum Himmel strebenden Bewegung. Sie lösen stets eine spirituelle Sehnsucht in mir aus, von der Schwere der irdischen Welt erlöst zu werden.

Auch dieses Bild zeigt die für El Greco typischen aufwärts strebenden Gestalten, die Irdisches und Himmlischen verbinden. Die menschlichen und Engels-Körper leuchten in den Farben grün, rosa, rot, blau, gelb und weiß. Aber sie sind nicht einfarbig-rein, sondern ineinander gemischt und in Längsstreifen vertikal gezogen wie wenn ein Wind sie bläht und zieht. Die Lichtquelle ist in der Mitte des Bildes und umgibt eine weiße Taube, in Goldlicht erstrahlend. Dieses Licht leuchtet strahlenförmig nach unten auf Maria zu und nach oben zu den Engeln, die, umgeben von bläulichen Wolkenballen,  mit Musikinstrumenten ein Konzert geben.
Großen Raum nimmt der Erzengel Raphael mit zwei gewaltigen Flügeln auf der rechten Bildseite ein. Er ist in ein grünes langes Gewand gehüllt und seine nackten Füße stehen, in einem Schritt auf Maria zu innehaltend, auf einem graublauen Wolkenballen rechts unten am Bildrand, da, wo eigentlich der Erdboden ist. Er hat die nackten Arme vor dem Herz gekreuzt in der Geste des Segnens, während er Maria anschaut. Maria schaut zu ihm auf, während sie wie überrascht den linken Arm nach vorn und unten und mit offener, nach unten gerichteter Hand wegstreckt und die linke geöffnete Handfläche den Segen empfangend vor die Brust hält. Sie ist  mit einem rosafarbenen langen Kleid angezogen und trägt einen graublau gemalten Umhang, der vom Kopf bis zum Boden reicht. Hinter Maria am Bildrand sieht man ein Stehpult mit einem aufgeschlagenen Buch. Es könnte also sein, dass Maria darin gerade  gelesen hat als der Engel sie anspricht, so dass ihre Handgesten auch den Schrecken über diese Verkündigung ausdrücken.
Es gibt zwei Details in diesem Bild, die mir unerklärlich sind. Seltsam kleine kopfartiger Kugeln flankieren den Lichtraum in der Mitte des Bildes zwischen Wolkenballen und einem der Flügel Raphaels. Es sieht so aus, als würden sie aus dem Gewölk hervorquellen. Dann ist da zwischen den Beinen Marias und des Engels ein grüner Strauch, aus dem mehrere helle Schößlinge emporwachsen. Sollen das Blüten oder Keime sein? Tief unten an Boden liegt ein zusammengeknülltes weißes Tuch bei einem mattroten Kissen. Man kann undeutlich auf dem Kissenstreifen einige Zahlen erkennen. Das Datum der Bildentstehung?
Neben diesem Bild sind noch zwei weitere Teile des Retabels zu sehen, die nicht weniger Bewunderung verdienen.

Gedanken zur Zeit (18)
30.04.2024

Scholz, Faeser und das „gesunde Volksempfinden“

Eine politische Glosse

Noch ehe die „Letzte Generation“ juristisch als „terroristische Vereinigung“ bezeichnet werden darf,  haben die beiden Politiker der Regierung die Aktionen dieser Protestbewegung als unerträglich für den Rechtsstaat verurteilt, gegen die man mit allen rechtlichen Mitteln vorgehen darf, und Scholz hat sie als „bekloppt“ diffamiert.
Selbstgerecht setzen sie sich über  die rechtlichen Bedenken und das fragwürdige Vorgehen der Justiz hinweg und wissen sich mit dem aggressiven „gesunden Volksempfinden“ über  die Proteste gegen Klimapolitik der Regierung  einig. Aber anstatt zivilen Ungehorsam als Teil demokratischer Kultur zu erkennen, kriminalisieren sie ihn und stellen ihn außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung.

Eine ähnliche von Affekten geleitete Reaktion der Staatsorgane hatten wir schon einmal bei rechten Politikern wie Franz-Josef Strauß erlebt, als sie die Außerparlamentarische Opposition verteufelten und als Feinde der Gesellschaft stigmatisierten.
Im „Wörterbuch des Unmenschen“ von 1945/1967 lese ich unter dem Wort „untragbar“, wenn es von einer politischen Instanz, wie z. B. einer Regierung, benutzt wird, um die Gegner auszugrenzen:

„Wo mit „untragbar“ hantiert wird, da verbergen sich Terror und Heuchelei hinter der Sprache, hüllen sich in ein depraviertes Wort, und eben die Sprache, die Sprachmaskerade, ist es, welche die Heuchler und Tyrannen anzeigt…“

Nun kann man die Worte der Regierung nicht als Element von Tyrannei und Terror bezeichnen, wohl aber als Heuchelei. Denn nicht um vernünftiges rechtsstaatliches Abwägen geht es, sondern um den Beifall der vox populi, die angeblich ein „gesundes Volksempfinden“ habe. 
Die „Frankfurter Allgemeine“  hat in ihrer Ausgabe vom 27. Mai 2023  das „Völlig bekloppt“ des Kanzlers ironisch kommentiert, weil es nicht ausgemacht ist, ob die Proteste der „letzten Generation“, so sinnlos sie der Regierung und ihrer populistischen Wahler auch erscheinen mögen, nicht doch zum Ziel des Widerstands führen, zum Beispiel  durch eine überraschende Änderung der Widerstandsstrategie. .

Ob der Beifall der vox populi für die Regierung später zu  Erfolgen für die AfD führen könnte, die man gerade durch .solche affektiven Ausbrüche für die eigene Partei zu verbuchen hofft, ist eine andere Frage.-
 

Gedanken zur Zeit (17)
30.04.2024

Th. W. Adorno – Thomas Mann
Briefwechsel 1943 – 1955
.

Herausgegeben von Christoph Gödde und Thomas Sprecher
Fischer Taschenbuch Verlag 2003

In den Jahren 1943 und 1944 lernten sich der Soziologe und Philosoph Theodor W. Adorno und der Schriftsteller Thomas Mann während ihres Exils in den USA persönlich kennen. Sie wohnten nicht weit voneinander entfernt in Kalifornien, dem Exilort für viele andere deutschsprachige Intellektuelle auch.

Die wichtigsten Briefe aus dieser Zeit – es sind die ersten zehn - haben die Zusammenarbeit am Roman „Doktor Faustus“ zum Thema. Die Briefe aus der nachfolgenden Zeit bis 1955 befassen sich außer mit privaten Lebensumständen mit den Inhalten späterer Werke Thomas Manns, mit den Romanen „Die Entstehung des Doktor Faustus“, „Der Erwählte“, „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ und mit der letzten Erzählung „Die Betrogene“. Weiterhin spielen Einschätzungen von Adornos  „Minima Moralia“ und der Gedanken zu Kafka durch Thomas Mann eine Rolle. Natürlich kommen auch Gedanken zu den gesellschaftlichen Verhältnissen im Nachkriegsdeutschland zu Wort.

Es ist das Verdienst Adornos, dass er dem Schriftsteller Thomas Mann bei dem Problem half, wie man die kompositorische Struktur eines Musikstücks literarisch umsetzen könnte, das dem Erzähler mit der fiktiven Figur des Komponisten im Faustus-Roman, Adrian Leverkühn, vorschwebte. .Thomas Mann verfügte hier nicht die moderne musiktheoretische Bildung, wie sie Adorno mitbrachte. Als Adorno seinem Freund das Buch „Die Philosophie der neuen Musik“ zu lesen gab und erläuterte, war dieser begeistert. In diesem Werk hatte Adorno die Entstehung der Zwölftonmusik beschrieben, die er bei seinem Lehrer Arnold Schönberg kennengelernt hatte.

Hermann Kurzke hat in der Thomas-Mann-Biographie den Schriftsteller zitiert, wie sehr der Charakter der Zwölftonmusik mit dem Denken des Adrian Leverkühn übereinstimmte in dessen Oratorium „Apocalipsis cum figuris“:  Daher preist Mann Adornos Beitrag besonders in dem Roman zur „Entstehung“: „Der Einfall, daß in dem verzweifelten Stück die Dissonanz für den Ausdruck alles Ernsten und Geistigen, das Harmonische und Tonale aber für die Welt der Hölle, i.e. des Gemeinplatzes stehen solle, ist echte Schönberg- und mehr noch Berg-Schule. Aus Adrians melancholischer Neigung zur Parodie entwickelte er das dämonische Merry-go-round der spottenden Nachahmung aller möglichen musikalische Stile…“ (S. 506) Dass Thomas Mann diese Stelle auf Druck seiner Familie, die Adorno den Anteil am Romanerfolg neideten, abschwächte, so Kurzke, gehört zu den schäbigen Seiten des Autors, denn man tat Adorno unrecht. Im Briefwechsel liest man nichts von dieser. Verletzung des Freundes – im Gegenteil: stets nimmt Adorno Thomas Mann gegen seine Gegner in Schutz und nichts wäre ihm lieber gewesen, ihn nach dem Krieg wiederzusehen. Zwischen den Zeilen spürt man den Kummer, dass beide großen Denker sich immer wieder um Tage verpassten, aus manchmal nicht ganz klaren Gründen auf Seiten Thomas Manns , der vielleicht nicht dieselbe Freundschaftsbindung verspürte wie der jüngere Adorno.

 Könnten sich auch beide in ihrem Blick auf die Geschichte unterscheiden? So schreibt Adorno in einem Brief von Dezember 1952: „denn meiner Neigung läge das Andere, der fessellose Ausdruck der Hoffnung  viel näher. Aber ich habe immer wieder das Gefühl, daß man, wenn man nicht im Negativen aushält oder zu früh ins Positive übergeht, dem Unwahren in die Hände arbeitet.“ (S. 128). Adornos Begeisterung für die studentische Jugend, die er nach 1952  an der Frankfurter Uni zu unterrichten begonnen hatte, ist das kein Widerspruch. Thomas Manns Blick auf Deutschland ist  - Brief vom 8. 3. 1954 - : widersprüchlich:: „Aber wie veraltet, überholt, widerlegt erscheint heute schon der „Faustus“, wenn man ihn nur als Allegorie für „Deutschland“ nimmt“, obwohl er ahnt, Deutschland werde wieder „ins Unglück“ tappen..

Gedanken zur Zeit (16)
30.04.2024

 Deutsche Atmosphäre

Seit es die Kriege in der Ukraine und im Gaza-Streifen gibt,  hat sich über Europa, vor allem aber über Deutschland, die Atmosphäre verändert. Sie ist trüber geworden und lastet als ein dünnes hellgraues Tuch über dem Land. Es riecht sehr fein nach Verfall ähnlich der muffigen Luft in alten Schlossgewölben. Der leblose atmosphärische Stoff zersetzt die Klarheit des Tages- und Nachtlichts. In vielen Regionen des Landes wird der Raum schlaff und ausgeleert. Die vordem lichte Weite der Lüfte verliert ihre Kohäsion und verklumpt. Man erlebt die atmosphärischen Störungen als diffuse Angst. Riesige negative Gedankenfelder breiten sich aus und lähmen. Misstrauen erstreckt sich über das ganze Land und betäubt die Herzen. Eine Maskerade aus Lügen, Verdrehungen der Vernunft, süßlichen Verniedlichungen und aufgeplusterter Empörung vernebelt die Augen. Man kann das Erkennbare, die nackte Wahrheit, nur noch verkennen,

Gedanken zur Zeit (15)
30.04.2024

Raum
Raum ist für mich der Himmel über dem Meer.
Der Raum scheint  hier näher zu sein als über dem Land.
Und wesentlicher. Raum an sich.
Weil er in der Horizontale nicht begrenzt wird durch feste Formen,
Häuser und Berge und durch lebende Formen wie Wälder.
In der Vertikale kann der Himmel durch Wolkendecken begrenzt sein.
Aber weil Wolken nicht starr sondern in Bewegung sind, wirkt diese Grenze nicht beengend.

Wenn der Himmel über dem Meer wolkenlos ist, weitet sich auch das Raumgefühl.
Dann atme ich tiefer und langsamer. Der Brustraum weitet sich zugleich.
Der Himmelsraum ist mit Luft und Licht gefüllt, Tag und Nacht, während der Weltraum darüber  große Stille ist. 
Der Raum  nahe der Erde ist unser Lebensraum.
Die Farbspiele des Lichts, die Stürme über dem Meere und die kühlenden Seewinde
und viele andere Naturbewegungen beleben unsere Sinne und Gefühle.


Sowohl im Weltraum als auch im Herzraum ist völlige Stille.(3) Der Brahman/Atman ist vollkommene Stille. Im Gegensatz dazu herrscht außerhalb der Lärm der Welt, das Chaos, das des Menschen „mind“ in die Welt gebracht hat: seine Leistungen, aber auch das Leistungsversagen, Ärger, Verluste, das reine Überleben,  Kämpfe und Krieg allerorten, zersplittertes Denken, Vergnügungssucht, Hungersnöte, Ängste, Verzweiflung, Heimatlosigkeit usw. Inmitten dieses Chaos gibt es kleine Inseln der Liebe und des Mitgefühls. Es gibt Künstler, die mitten im schrecklichsten Lärm der Welt ergreifende Werke schufen; so z.B. der russische Komponist Schostakowitsch, der während der Tyrannei Stalins großartige Sinfonien komponierte, die in den Zuhörern Raum für das Schöne der Musik öffneten und dadurch die Angst für eine Weile transzendierten.

Wenn man im Herzraum weilt, kann man verstehen, welches Chaos der menschliche Geist in die Welt gebracht. Die Buddhisten nennen das derzeitige Zeitalter das schlimmste überhaupt, das Kali-Yuga, es ist das Zeitalter des Materialismus, in dem die Spiritualität fast ganz verschwunden ist.

.Amma dagegen ist ein Hort der universellen Liebe, die Friedens und beseitigt die Hindernisse, die oben genannt wurden, wie sich jeder überzeugen kann, der ihr  sein Herz öffnet und seine Nöte offenbart. Ihre universelle Kraft kommt aus der Stille, von der Rumi einmal sagte. „Stille ist die Sprache Gottes; alles andere ist eine schlechte Übersetzung.“ Ammas karitative Werke sprechen alle die Sprache Gottes.

Raum an sich können wir nicht sehen oder anfassen und er hat keinen Anfang und kein Ende. Vom Verstand her ist das unbegreiflich.  Aber wir können ihn sinnlich wahrnehmen.

Wenn ich ungestört an einem ruhigen Tag bei sonnigem und wolkenlosem Himmel am Meer liege, die Augen schließe und mein Bewusstsein in den Raum sende, dann kann ich Raum erfahren. Es wird still und friedlich in meinem Bewusstsein und das führt zur Entspannung im Körper, so dass ich sogar einschlafe. Offenbar gibt es eine Resonanz zwischen dem Raum außerhalb meines Körpers und den Innenräumen im Körper. Man weiß ja schon lange, dass zwischen den kleinsten Bauteilchen im menschlichen Körper „leerer“ Raum ist. Im quantenphysikalischen Sinn ist er aber nicht leer, so wie auch der Weltenraum kein Vakuum ist, sondern ein Informationsfeld. Und das kann sich zusammenziehen und expandieren, was sich sofort auf die Zellsysteme auswirkt und im weiteren Verlaufe auf den ganzen Körper bis hin zu unseren Sinneswahrnehmungen

Das Raumbewusstsein öffnet sich allerdings nur, wenn mein Kopf nicht voller Gedanken, Bilder, Vorstellungen oder Konzepten ist. Man kann ja auch nicht von einem Zimmer, das mit Möbeln vollgestellt ist, sagen, dass es geräumig oder weiträumig ist. Genauso verhält es sich mit unserem Geist. Wir müssen zuerst in unserem Geist Raum geschaffen haben, wenn wir die Natur des Raums  kennenlernen wollen. Und genau das ermöglicht die Meditation. Wie erinnerlich hatte der junge Kant bei  Spaziergängen mit seiner religiös aufgeschlossenen Mutter  einen unvergesslichen Eindruck  von der Größe des Universums beim Anblick des Sternhimmels bekommen, der ihn ins Herz traf und seine Philosophie später prägte.

Die unmittelbare Raumerfahrung des Universums ist wahrlich umfassender als eine rein intellektuelle Anschauung. Sie berührt in uns etwas Größeres, als unser Denken verstehen kann und  macht uns den Begrenztheit unser mentale Kräfte bewusst. Vielleicht ist das Worts Lao Tses hier angebracht und schlägt zugleich eine Brücke zu alten spirituellen Erkenntnissen vom Raum:

„Der Weise lebt still inmitten der Welt. Sein Herz ist ein offener Raum“.

Alles, was ist, entsteht aus Raum und vergeht wieder in ihm; auch der Mensch.

Raum ist der Grund.
Auch, was der Mensch hervorbringt, entsteht aus Raum.

Dieses Raums kann der Mensch innewerden, wenn er in der Meditation tief in seinen Herzraum geht. Von diesem Raum, an dem Gott mit der Seele eins ist, heißt es in der Chandogya-Upanishad:
„Geist ist sein Stoff, Leben sein Leib, Licht seine Gestalt; sein Ratschluss ist Wakhrheit, sein Selbst die Unendlichkeit (Äther). All wirkend ist es, allwünschend, allriechend, allschmeckend, das All umfassend, schweigend, unbekümmert;-
dieser ist meine Seele (atman) im inneren Herzen, kleiner als Ein Reiskorn oder Gerstenkorn oder Senfkorn oder Hirsekorn oder eines Hirsekorns Kern; -
dieser ist meine Seele im innren Herzen, größer als die Erde, größer als der Luftraum, größer als der Himmel, größer als diese Welten.“ (III/14/1-4)

Und ähnlich in der Kathaka-Upanishad I/2/20:
Des Kleinen Kleinstes und des Großen Größtes wohnt er als das Selbst hier dem Geschöpf im Herzen; frei von Verlangen schaut man, fern von Kummer, gestillten Sinnendrangs des Atman Herrlichkeit.“

Im dritten Buch ( Prapathaka) der  Chandogya-Upanishad lesen wir im 12. Kapitel (Khanda) in Vers  7:

„Was nun dieses `Brahman` Genannte ist, ist dasselbe wie jener Raum außerhalb des Menschen ist; - und was jener Raum außerhalb des Menschen ist, ist
8. das ist dasselbe, was dieser Raum innerhalb des Menschen ist; - und was dieser Raum innerhalb des Menschen ist,  9. Das ist dasselbe, was dieser Raum innerhalb des Herzens ist.

Das ist das Volle, Unwandelbare.
Volles, unwandelbares Glück empfängt, wer solches weiß.“:

Da kann ihm bewusst werden, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem formlosen Raum und den Vorstellungen, Gedanken, Bildern, die der menschliche  Geist (mind)  vorbeiziehen sieht.  Der Raum indessen bleibt völlig still und unverändert. Der Raum ist sozusagen der Hintergrund von allem, dass wir wahrnehmen; ähnlich einem Kino: auf der Leinwand erscheinen die Bilder und Szenen, die ein Projektor auf die Leinwand projiziert hat. Damit wir die Projektionen sehen können, braucht es die Leinwand. Diese entspricht unserem Geist (mind; Sinneswahrnehmungen). Ohne Leinwand  /Geist könnten wir gar nichts sehen. Nimm alle Projektionen weg (Ideen, Bilder, Worte etc), dann bleibt der menschliche Geist (mind) übrig; läßt du den auch weg, dann bleibt nur reiner Raum übrig, aber den du nicht siehst, wie Shankara dargelegt hat.

Die Upanishaden sind Gebete, Hymnen, reflektierende spirituelle Text, die aus Erleuchtungserfahrungen der  Meister /Rishis entstanden sind. Sie gehen auf Erfahrungen des göttlichen Raums zurück und teilen uns mit, wie man leben und spirituell praktizieren muss, um Glückseligkeit als die Natur des Menschen zu erkennen. Und um den offenen Raum als die Kraft der Liebe und Freiheit zu verehren, dazu helfen so große Meister wie Amma. Zu der Anmerkung sei gesagt: Es heißt in der Bhagavad Gita, dass Krishna das Weltall in sich trägt. Und dasselbe hat Amma  mich  selbst sehen lassen.

In den Upanishaden wird der Raum des Weltalls als das Brahman bezeichnet. Brahman ist der unpersönliche Aspekt Gottes. Es ist der Urgrund von allem. Es ist das „Allumfassende; das Universelle…Ist unzerstörbar, es läßt sich nicht beschreiben  und hat keine relativen Eigenschaften, die ihm zugeordnet werden könnten.“ (Spirituelles Wörterbuch). Ein anderes Wort für Brahman ist der Atman.

Was der Atman ist, wie er wirkt, wie der Mensch ihn erfahren kann, darüber gibt es in den Upanishaden viele anschauliche Erklärungen. Ich beschränke mich hier auf ein Zitat aus dem „Spirituellen Wörterbuch“: „der `àtman` ist die unsichtbare Grundlage, das wirkliche Selbst, die dem Menschen innewohnende Göttlichkeit, die Seele…Er ist die eigentliche Substanz der gesamten `objektiven` Welt, die Wirklichkeit hinter dem Schein…kennt kein `ich ` oder `mein`… ist  unsterblich…Er ist die wesenhafte Wirklichkeit des Individuums.“ In den Veden wird er auch das `Selbst` genannt und ist nicht zu verwechseln mit dem psychologischen Begriff. Der große spirituelle Seher Sri Sankaracarya (788-820 n.Chr.?) hat in seinem „Vivekacudamani“ (dt.: Das Kronjuwel der Unterscheidung) folgende Verse über den Atman (Brahman) geschrieben:

Dass das Herz das Raumzentrum  des Menschen ist, machen uns  Verse aus den Upanishaden klar:
„Wahrlich, dieser Atman ist im Herzen!...Wahrlich, wer solches weiß, der geht täglich ein in die himmlische Welt.“ (Chandogya-Upanishad VIII/5/3)
„Wahrlich, dieses große, ungeborene Selbst ist unter den Lebensorganen jener aus Erkenntnis bestehende (Selbstleuchtende Geist). Hier, inwendig im Herzen ist ein Raum, darin liegt er, der Herr des Weltalls; der Gebieter des Weltalls, der Fürst des Weltalls…“ (Brihadaranyaka-Upanishad, IV/6/22)
Am prachtvollsten aber hat Shancaracarya im „Vivekacudamani“ diesen Wohnraum des Selbst beschrieben:
Unbeschreiblich, ewig erleuchtet, absolut glückselig, unbegrenzt, ewig frei, wunschlos, unendlich wie der Raum, ungeteilt, nicht vielfältig: das ist Brahman. Diese vollendete Absolute Wirklichkeit erfährt der Weise im Herzen in tiefer Meditation.“ (Vers 409)
Raum in der Meditation. Raum während der Meditation erfährt man immer dann, wenn die Gedanken in ihren vielfältigen Formen aufhören. Mal ist diese Raumerfahrung kürzer, mit zunehmender Praxis wird sie länger. Aber diese Erfahrung ist keine mentale, bewusste Erfahrung, die sich in Gedanken zeigt, sondern sie erscheint jenseits davon als eine wortlose, formlose Stille, eher als Gefühl von Weite, Freiheit und unbegrenzter Leichtigkeit. Ich wüsste keine Glückseligkeit, die diesem Seinszustand gleichkommt. „Ananda“ heißt diese Glückseligkeit.
Der Verstand, das Denken kann alles Bewusstsein reflektieren, aber dieses glückselige kann er erst wahrnehmen, wenn es vorbei ist und als begrenztes, endliches Phänomen zugänglich ist. Gleichwohl sagen die Schriften, dass diese in der Stille erfahrene Glückseligkeit den Atman wiederspiegelt, die wahre unsterbliche Wirklichkeit hinter der sichtbaren endlichen Wirklichkeit.  Im Grunde macht sie den göttlichen Raum des Menschen aus, aber die meisten nehmen ihn nicht wahr, weil er sehr kurz ist, z.B. als die Stille oder (scheinbare) Leere zwischen zwei Atemzügen. Das heißt: Je mehr wir jenen mind (Geist) von allen Unreinheiten reinigen und während der Meditation den Spiegel der Gedanken polieren, desto klarer spiegelt sich die Glückseligkeit (ananda) unseres wahren Selbstes als Erfahrung wieder.(Vgl. Swami Ramakrishnananda Puri: Living Vedanta)

Die Quantenmechanik hat nach Bentov (1) bei Pendelbewegungen, wie es die oszellierenden Herz-Aorta-Systeme z.B. sind, festgestellt,  dass die Strecke, die pro Zeiteinheit zurückgelegt wird, immer kleiner wird, je näher das Pendel zum Wendepunkt kommt. Nach der Forschung von Max Planck heißt das, dass man bei Strecken unter 10 hoch minus 33 cm „praktisch eine neue Welt betritt“. Denn an der extremsten Stelle der Pendelbewegung kollabiert der Raum-Zeit-Kausalnexus. Das Teilchen (hier: der Pendel) kann den Raum in alle Richtungen durchqueren, ohne dass das in Zeit meßbar ist. Wenn man den durchlaufenen Raum durch Null-Zeit dividiert, dann ergibt das eine unendlich große Geschwindigkeit, die schneller als das Sonnenlicht ist.
Außerdem kann man an dieser Stelle den Bewegungsimpuls und die Position des Teilchens nicht mehr klar bestimmen (lt. Heisenbergs Unschärferelation). Wenn man die Bewegungsgröße des Pendels am Extrempunkt bestimmt, wird die Position völlig undefinierbar. Das Pendel kann demnach überall im unendlichen Universum sein – aber es braucht dazu die Null-Zeit. Das Pendel verschwindet, Materie verschwindet am Punkt des völligen  Stillstands, der nur eine Fiktion ist. Die objektive Realität verschwindet. Diesem Vorgang nähert sich das Bewusstsein (das an die materiellen Sinne gebunden ist). Es ist zur gleichen Zeit allgegenwärtig. Die physische Realität springt in einen materiefreien Geisteszustand. „Die Ausdehnung des Bewusstseins führt zur Ausdehnung des Raums“ (Bentov). (1) Dieser Prozess spielt sich ab, wenn man tief meditiert und wird in den Upanishaden häufig gedanklich umkreist.

Raum im Menschen ist schöpferisch. Es ist das Wesen des Raums, hervorzubringen, denn Raum ist Raum voller Potentialitäten, voller Möglichkeiten, wie die Quantenphysiker das darlegen. Und so ist die Kreativität des Menschen absolut vom Raumbegriff her gesehen, unerschöpflich. Ein schöner Beleg dafür ist das Verhalten von Babys, wenn sie ohne äußere Anregungen durch ihre Mütter allein und gut versorgt und entspannt in ihrem Bettchen liegen, wobei die Mütter für das Kind unsichtbar und unhörbar in der Nähe der Kinder sind. Was man da beobachtet hat, haben die berühmten Kinderpsychologen Daniel Stern und D.W. Winnicott so beschrieben:  die Kleinen beginnen nach einiger Zeit scheinbar regellos umherzutasten, sich das Bettchen anzuschauen, ihren Körper zu räkeln, mit der Decke etc oder mit Klötzchen zu spielen, wenn sie erreichbar sind – und alles ohne Hast und Angst. Daraus schließt man, dass die Babys in einem „offenen Beziehungsraum“ offenbar von innen kommenden Bewegungsimpulsen folgen und allein mit sich selber sein können ohne die direkte Gegenwart des anderen. Der Wert dieses offenen Raums besteht darin, dass das Kind maximale Wahlmöglichkeiten und Handlungsoptionen nutzt und dabei neues Verhalten erfindet, das ihm nicht vorgemacht wurden. Anfangs geschieht das auf sensomotorischer Ebene, aber die ist die Basis für die Entwicklung einer autonomen Persönlichkeit, zu deren Merkmal wir das Alleinsein können in Gegenwart eines anderen zählen.
Wir meinen dasselbe, wenn wir sagen, dass Gott diese Qualität hat, und dass die Schöpfung in jeder Sekunde ein Ergebnis unbekannten und nicht voraussehbaren Bewusstseins ist. . Das hat sie mit der Liebe gemeinsam. Je mehr ein Mensch mit dem Herzensraum in Verbindung ist, umso authentischer und überraschender seine Liebe.
Der zypriotische Heiler und spirituelle Meister Daskalos, hat eine Kosmologie geschrieben, die den Vorgang göttlicher Schöpfung und das seiner Kinder, der Menschen,  geschaut und die er aufgeschrieben hat. Und die selbstlose göttliche Liebe des Mahatma Amma hat zu weltumspannenden Werken der Liebe geführt.
Der Philosoph Zygmunt Bauman sagte am Ende seines Lebens: „Aber ich glaube an die Unverzichtbarkeit von Gott für unser Überleben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschheit leben kann ohne Gott. Der Mensch ist ein intelligentes Tier. Im Unterschied zu diesem realisiert er, dass er ungenügend ist, dass ihm etwas fehlt. Wie kühn und wagemutig wir auch immer sind, wir kommen stetes an Grenzen und fragen uns, was hinter der Grenze ist.“ (aus: Das Vertraute unvertraut machen. Ein Gespräch mit Peter Haffner).
Meine Gedanken hatten den Zweck, die Phänomene des Lebens zu hinterfragen nach  ihren Ursprüngen. Nun zeigt sich, dass es zwischen beiden Ebenen, ewiger Raum und vergängliche Phänomene   keinen logischen Kausalnexus gibt. Es gibt nur einen unaufhörlichen, sich selbst erklärenden schöpferischen Prozess des Werdens und Vergehens. Und wir wissen nicht, wo das eine aufhört und das andere beginnt. Was wir in dem Fluss des Seins dann erkennen, hängt von unserem Bewusstsein ab. Wenn es z.B. in einem Goethe-Gedicht heißt: „Und alles Drängen, alles Ringen // Ist ewige Ruhe in Gott dem Herrn“, dann sagt das nur etwas über die Wirkung des Brahman in unserem Bewusstseins aus, aber nichts, was darüber hinaus geht.
Hier kommt „mithya“ ins Spiel: Illusion, dass da etwas existiert, was aber nur als vorübergehend wahrgenommen wird und dann wieder verschwindend; was wir meinen, als unabhängig vom Ich/Selbst wahrzunehmen, dies ist aber eine Illusion. Die Bezeichnungen sind ephemer. Der Weise (jnani) sagt, dass Namen und Form in ihren Erscheinungen das Selbst einschließen. Er glaubt aber, dass unter den sich ständig wechselnden Phänomenen eine unveränderliche Basis liegt: die reale Existenz, die er indessen selber ist (Existenz an sich oder reine Existenz).
Reine Existenz selber kann nicht als ein Objekt erfahren werden, weil sie das ist, wer wir sind. Das wahrnehmende Subjekt kann ein Objekt wahrnehmen, aber sich nicht selber als Subjekt. Wir können uns selber nur als eine Reflektion wahrnehmen. Und zwar „als „sat“, dem Existenz-Prinzip, das jedes Objekt durchdringt“. Dasselbe kann man vom „Raum“ auch sagen. Alles, was man im wahrnimmt, existiert in Zeit und Raum. Dass selbe gilt für den Atman: Weil man der Atman ist, existiert er überall in allem und allen, auch wenn die physische Erscheinung gestorben ist, denn es gibt nur einen Atman, das Höchste Bewusstsein (Amma). So wie Raum, wenn man Raum ist; doch wenn man ihn als Objekt sieht, sieht man ihn nur als Reflektion des Subjekts. Die Existenz des Raums kann nicht durch Logik oder Sinne wahrgenommen werden, sondern nur durch einen Meister (Guru) wie Amma  oder die Heiligen Schriften (Gedanken aus: Living Vedanta; Swami Ramakrishnananda Puri, 20219, denn nur sie haben die dreidimensionale Welterfahrung überschritten.

Bei einer Begegnung mit Amma, wo ich um eine spirituellen Namen bat, saß  ich ihr gegenüber, und blickte unverwandt auf ihr Herz, während sie in einem Namenbuch blätterte. Plötzlich tat sich vor meinen Augen das Universum aus mit seine Sternen, Planeten und der unendlichen, nachtblauen Tiefe des Universums auf. Da nannte sie mir den Namen „Lokesh“. Selbige Offenbarung sagt Krishna in der Gita:
„Von der Schöpfung bin ich der Anfang und das Ende sowie die Mitte, Arjuna“

„Mit einem unendlich kleinen Teil Meines Selbst trage und erhalte Ich dieses ganze Universum.“ (X, 32 und 42)

Man kann auch sagen, dass Namen und Formen eine niedere Sicht der Realität sind (auch der physische Tod gehört dazu, denn er geht vorbei) während der Wahrnehmende als solcher ist bleibende (höhere) Realität ist. Die ganze Namen-Form-Welt wird als Lila / Spiel von einem absoluten Bewusstsein her gesehen. Diese Welt mit ihren unterschiedlichen Facetten sind der Film „Leben“. 
Als ich Amma 2007 zum ersten Mal in einer großen Halle traf, wo sie viele Tausende nacheinander umarmte, hatte ich zwei Erfahrungen gleichzeitig. Einerseits war die Halle  mit den Stimmen von Tausenden Besuchern überfüllt. Andererseits war die Unuhe in diesem Raum von dem Freiraum einer großen Stille durchdrungen, die über die Mauern der Halle hinaus  ausdehnte. Und je näher ich Ammas Stuhl kam, wo sie die Menschen umarmte, desto dichter wurde diese Stille, die Stille der selbstlosen Liebe, die sie jedem Besucher weitergab, so dass Menschen in Tränen oder in strahlende Freude ausbrachen, wenn sie sich Amme nur näherten. 

Anmerkungen:
Die drei Bewusstseinszustände, skr. gunas, sind: sattva (das Reine und Feine der bewussten friedlichen Erkenntnis; rajas (die Aktivität, mit der man etwas vollbringt, auch die Ruhelosigkeit, die Passion) und tamas, die Trägheit, Dummheit, die Interesselosigkeit.

Die fünf Hüllen der Seele sind: der grobstoffliche Leib, der feinstoffliche Energiekörper (Ätherleib), der feinstoffl. Mentalkörper, der feinst. Körper der Erkenntnis (der spirituelle Körper) und der Körper der Glückseligkeit (der ketherische Körper).
Nach der vedisch-, hinduistischen Sicht sind die fünf Hüllen: 1. Der physische Körper, 2. Die Energieschicht (sie kontrolliert das neurologische, kardiologische und endokrinologische System), 3. Die Mentalschicht ( sie arbeitet mit den Sinnesorganen und den Gefühlen), 4, Das Selbstgefühl des unterscheiden könnenden Egos mit sein seinem Willen und den Gefühlen, 5. Die form- u, wortlos und gedankenfreie Schicht des „Samadhi“ mir der „bliss“-Erfahrung.

Ich verdanke Gedanken dem Werk „Pearls from the Infinite Wisdom, Vol. 1, von Swami Amritachitswarupananda Puri. Amritapuri/Indien 2022.
Zur Veranschaulichung des Wesens von Raum im Unterschied zu Form/Gestalt, sei aus „Pearls from the infinite Wisdom“, Vol. 1 von Swami Amritachitswarupananda Puri die folgende Geschichte zitiert (S. 26, Amritapuri 2022):

  1. Itzhak Bentov: Töne-Wellen-Vibrationen. Qualität und Quantität des Bewusstseins. München 1984

Gedanken zur Zeit (14)
28.01.2023

Sozialpsychologie des Autoritarismus

Über das Buch „Konformistische Rebellen. Zur Aktualität des autoritären Charakters“.
hgg. von Katrin Henkelmann, Christian Jäckel, Andreas Stahl, Niklas Wünsch und Benedikt Zopes. Berlin 2020, Verbrecher-Verlag.

Das vorliegende Buch ist u. a. mit der Unterstützung des American Jewish Committee, der Rosa-Luxemburg-Stiftung Rheinland-Pfal entstanden. Es ist hervorgegangen aus Diskussionen des „Rosa Salons“ der Uni Trier zu der Frage, inwiefern für den Populismus und Autoritarismus autoritäre Denk- und Verhaltensmuster noch bedeutsam sind.
Die Mehrzahl der Beiträge geht von den Untersuchungen zum autoritären Charakter der Frankfurter Schule in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts aus. Die heutige kritische soziologische Forschung , wie z.B. die Leipziger Autoritarismus-Studie, befasst sich dagegen mit neuen Formen des Sozialcharakters, die in dem Buch auch zur Sprache kommen.

Jens Benicke zeichnet in seinem Aufsatz nach, woran die antiautoritäre Bewegung in Deutschland gescheitert ist, würdigt aber auch ihre nachhaltigen Wirkungen in den Bereichen Pädagogik und Frauenbewegung. Zu ergänzen wäre hier die Humanistische Psychologie.
Jens Berger zeigt die Veränderungen der Parteienlandschaft nach dem Ende des Kalten Kriegs auf, die einher geht mit dem Ende der patriarchalischen, autoritär gelenkten Familienverhältnisse. An die Stelle  weltanschaulicher Konflikte der Parteien, treten nun nationale, ethnische und  religiöse Konflikte, die sich zudem noch regionalisieren..  In den Familien hat  sich seit den 60er Jahren, von sozialen Randgruppen abgesehen, ein liberal-demokratisches Modell der Erziehung entwickelt, was die Eigenständigkeit und den Selbstwert der Heranwachsenden respektiert. Für faschistische Denkformen gibt es da keine Bedingungen mehr, so wie es noch Adorno, Fromm und Horkheimer in ihren Studien über „Autorität und Familie“ vorgefunden hatten. Berger definiert  einige Strukturmerkmale der Parteien neuen Typs: Flexibilität, schnelle Entscheidungen und nur noch mittelfristige Planungen . Ebenso seien Führungspersonen alten autoritativen Stils und verbindliche, langfristig angelegte Programme passe. Ein Vergleich mit modernem Management  und Unternehmensführung, wie es Andreas Reckwitz in „Die Gesellschaft der Singularitäten“ beschrieben hat, drängt sich auf.

Wie Gerber beleuchtet auch Jan Weyand in dem Buch nochmals den historischen Hintergrund der Frankfurter Studien (die in den 1940er Jahren aber in den USA gemacht wurden). Damals wurden sie  psychisch auf diverse gesellschaftliche Erscheinungen bezogen, u.a. auch auf die Einstellung den Juden gegenüber. Adorno interessierte, wie dies „die Anpassung an eine verhärtete Gesellschaft“ befördere. Schon damals rekurrierte er auf ungute Erfahrungen des Menschen in der frühen Kindheit. Aber politisch und bezogen auf Wählerverhalten waren diese Untersuchungen noch nicht. Die psychische Dynamik des „schwachen Ich“ mit seiner unreflektierten Ambivalenz von Aggression und Unterwerfungen unter Autoritäten und Projektion der eigenen Aggression auf äußere Schwächere – das zu analysieren war das große Verdienst dieser Studien von Fromm, Horkheimer und Adorno. Dass allerdings auch in dem vorliegenden Buch die Arbeiten von Wilhelm Reich zum autoritären Charakter kaum hinzugezogen wurden, ist für den Rezensenten ein fortwährendes Ärgernis über die akademische Psychologie.

 Umso überraschender sind die neuen Leipziger Studien zum Autoritarismus, ehemals „Leipziger Mitte-Studien“, die Weygand zitiert. Demnach hätten rechtsextreme Einstellungen seit 2006 abgenommen. Man kann das auf die Entwicklung eines partizipativ-liberal-demokratischen  Erziehungsstils in den Mittelschichten zurückführen, wie er m. E. besonders gut von Manfred Dornes („Die Modernisierung der Seele“, Frankfurt/M. 2012) belegt wurde. Da es indessen auch widersprüchliche Untersuchungen gibt, vermutet Weyand einen Mangel an klaren Recherche-Indikatoren, um das Autoritäre vom Nicht-Autoritären zu unterscheiden.

In Bezug auf die derzeitige Debatte, was Identität politisch meine, hebt Karin Stögner vor allem als typisches Kennzeichen autoritärer Gesinnung den Hass auf reflektierte und urteilsfähige Individualität  der Meinungsbildung hervor. Dieser Individualismus sei nicht zu verwechseln mit dem neoliberalen  Individualismus, denn dieser ist verführt, sich mit Kollektiven zu vereinen, um der Vereinzelung und Einsamkeit, der sozialen Abwertung inmitten der Warengesellschaft zu entgehen. Dabei ist er bereit, die universalistischen Werte wie Gemeinwohl, Freiheit und Gleichheit und Autonomie des klassischen Humanismus zu verraten und Parteien und Gruppen zuzugehören, die diese Werte propagieren, aber genau das Gegenteil davon praktizieren, indem sie enge Grenzen der Heimeligkeit, Zugehörigkeit etc. setzen und diffamieren, was anders als sie ist. Ihr Eigenes beträufeln sie mit retro gewendeten Romantizismen, Mythen, nationalistischer Gleichmacherei, mit. antifeministischen, rassistischen Einstellungen– als Identität etikettierter Ideologie.
Stögners Aufsatz halte ich einen der überzeugendsten in dem Buch. Mit gutem Grund verweist sie auf die Note „Melange“ in Adornos Minima Moralia.

Auch Christine Kirchhoff greift in ihrem Beitrag  („Gefühlsbefreiung by proxy“) auf Adornos „Studien zum autoritären Charakter“ zurück, bezieht aber auch Studien von Wolfgang Pohrt über Autoritarismus ein. Grundelemente des Autoritarismus seien Projektivität und stereotypisches Denken, die anfällig machen für faschistische Einstellungen. Anstatt dass die Rechten Interesse am Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten, z:B. die ungerechte Vermögensverteilung hätten, lassen sie sich von den „Gefühlsbefreiungs-Tricks“ .ihrer autoritären  Gruppenführer dazu verleiten, die Gruppenidentität als Befreiung aus der eigenen Ohnmacht zu feiern.  Die Autoren hätte hier auf die Arbeit von Nicola Gess über „Halbwahrheiten“  eingehen können, die gut darlegt, wie Emotionen einzig dem Machterhalt dienen und Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung ihrer Mitglieder aushöhlen. Deshalb, so die Autorin, könne man mit Rechten auch nicht reden. Ihren Vorurteilen und emotionalen Projektionen zufolge. Können sie nicht objektiv, geschweige denn dialektisch denken. Karin Stögner (s.o.) beschreibt die rechte Person:
„Identität ist also nicht mehr an das Individuum gebunden im Sinne eines identischen Subjekts, das in der Lage ist, eine widersprüchliche Einheit der Persönlichkeit zu schaffen, die Ambivalenzen aushält, Kritik (auch an sich selbst) üben und reflektiert zu Urteilen gelangen kann, welche die unmittelbare Situation transzendieren. Bei Identitätspolitik liegt der Fokus auf kollektiven oder Gruppenidentitäten, die an spezifische Situationen oder Positionen gebildet werden, die aber ihrerseits nicht transzendiert werden.
Kirchhoff kritisiert außerdem, dass die herrschende positivistische Psychologie sich nicht mehr auf eine kritische Gesellschaftsanalyse beziehe., sondern sich mit qualitativen Messungen begnüge und daher keine Basis habe, ob das eine besser als das andere sei.

Der Autor  Michael Schüßler  rekapituliert die Psychodynamik des autoritären Charakters, wie sie von der Säuglingsforschung und Bindungsforschung abgeleitet werden kann, wobei Schüßler diese Quellen nicht näher heranzieht. Dabei geht Schüßler auf die Bindungsstörungen zwischen Mutter und Kind in der frühsten Kindheit ein, die durch eine usurpatorische Praxis seitens der Mutter ausgelöst werden. Dazu zählen Gewalttätigkeiten gegen das Kind, Vernachlässigung der Fürsorge, Repression des autoerotischen Selbsterlebens des Kindes und narzisstischer Missbrauch. Diese Kenntnisse sind wichtig,  um unsoziales, rebellisches und aggressives Verhalten  von Jugendlichen in den Randgruppen der Gesellschaft, den sogenannten  „Abgehängten“ , zu verstehen. Da bei diesen Frühstörungen die seelische Basis für das Selbstgefühl, für das Selbstwertgefühl sehr brüchig ist und da sie kein Mitgefühl entwickeln konnten, das zwischen dem Selbsterleben und dem Erleben des anderen unterscheidet, reagieren sie mit Aggression und (sadistischer) Gewalt auf jemanden Schwächeren, der leidet, ohne zu wissen, dass sie  nach außen etwas tun, was ihnen als kleines Kind selber von lieblosen Eltern angetan wurde. Deshalb ist die Bindung an eine Gruppe ähnlich Traumatisierter so wichtig; sie schützt sie davor, immer wieder auf die innere seelische Wunde gestoßen zu werden.
In diesem Zusammenhang kann man auch die Charakterstruktur des Antisemiten untersuchen, wie es Samuel Salzborn in einem weiteren Aufsatz tut. Er beschreibt psychoanalytisch die Gut/Böse Ich-Spaltung des Antisemiten.in der präödipalen Lebensphase, wobei das Böse (das negative Mutter/Vaterbild) nach außen projiziert wird und z.B. im Glauben einer jüdischen Weltverschwörung  aufscheint, während man in der Illusion eines bloßen Gutseins stehenbleibt. So vermeidet man die Auseinandersetzung auch mit der jüdischen Religion und bildet eine narzisstische Identität aus. Ambivalenz-Erfahrungen, die zur Selbstkritik führen könnten, bleiben wegen der Ich-Spaltung dem Antisemiten unzugänglich.  Der geliebte Elternteil wird in dem „Führer“ oder  „dem Völkischen“   idealisiert, der gehasste in den Juden. entwertet. Die Fähigkeit zum Mitfühlen wird allenfalls als Abstraktum betrachtet, aber nicht gefühlt. Diese ganze Dynamik spielt sich im Rahmen der entmenschlichenden, die Wahrnehmungen verdinglichenden bürgerlichen Gesellschaft ab. Das sich selbst entfremdete Subjekt (Adorno: „die Kälte der Gesellschaft“) verschleiert so den antisemitischen Wahn, der die jüdische Geschichte und Kultur entstellt. Wenn es gelänge, die Juden auszulöschen, wäre man jede Ambivalenz und Ambiguität des modernen Menschen in sich selber los, denkt der Antisemit..

Prinzipiell kann sich der Antisemit gegen jede „andersartige“ Gruppe  wenden; allerdings wurde bisher keine Gruppe in so schrecklichem Umfang vom antisemitischen Ressentiment betroffen wie die Juden.
Eine Dimension weiter als die bisherigen Deutungen des Antisemitismus gehen Autoren, die ihn im Rahmen des gesellschaftlichen Bewusstseins im fortgeschrittenen Kapitalismus sehen. Enrico Pfau führt dafür von der Kritischen Theorie  verwendeten „Ticket“-Begriff ein. Ticket ist „als ein im Ganzen unkritisch übernommenes Denk- und Verhaltenssystem“ (Pfau, S. 131). Er unterscheidet drei Dimensionen des Tickets: als  ein „en bloc übernommenes fertiges Denk- und Verhaltensmuster“, eine Verarbeitung dieser Muster in der Psyche, „um ihre Einheit zu erhalten“ und   als „standardisierter, den Individuen gegenüber übermächtiger gesellschaftlicher Prozess“ (Pfau, S. 131f.) Zum letzteren zählen Massenproduktion, Kulturindustrie und kapitalistische Verwertungslogik. Und Pfau fährt fort: „Ob sich jemand konformistisch, unterwürfig oder manipulativ zu den Inhalten des Tickets verhält, hängt mehr von der psychischen Entwicklung, dem Umgang mit Aggressionen im Triebleben und äußeren Rahmenbedingungen, wie beispielsweise Propaganda ab.“ (S. 133) Was wäre dann eine ädäquate Beschäftigung mit dem Antisemitismus, wenn auch eine positive Einstellung zum Juden  der Stereotypie des Tickets unterliegt? Denn im Ticket-Denken finde, wie Pfau zurecht schreibt, „kein subjektiver Konstruktions- und Rekonstruktionsprozess in Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit mehr statt.“ (S. 137) Statt dessen nimmt man autoritär den Standpunkt ein, auf der richtigen Seite zu stehen und beschuldigt den Adressaten eben vom Gegenteilt. Beide werden sie zu falschen Propheten. Wie ein vernünftiger, sich vom Ticket lösender Dialog und Denkprozess aussehen soll, lässt der Autor offen.
Eine der wenigen Arbeiten, die die psychologischen Deutungen der Charakterstrukturen mit den kapitalistischen Produktions- und Beschäftigungsverhältnissen der arbeitenden Gesellschaft in ihrem historischen Verlauf verknüpfen, ist der Aufsatz von Peter Schulz. Er sei hier kurz skizziert.

Für den autoritären Charakter bezieht Schulz sich auf die Gesellschaftsanalysen von Erich Fromm und Wilhelm Reich in der Zeit zwischen 1920 und 1930. Die autoritär nach militärischem Vorbild organisierten Arbeitsverhältnisse in den industriellen Großbetrieben mit ihrer Fließbandarbeit  funktionierten durch eine autoritär gelenkte Familienstruktur, die triebfeindlich auf Gehorsam beruhte und zugleich Unterstützung bei den Autoritäten brauchte. Für den Aggressionsabbau benötigte man Ersatzspielräume, z.B. den Massensport oder den politischen Gegner.  Mit dem Aufkommen der Welt der Angestellten, d.h. der personenbezogenen Dienstleistungsarbeit in der Nachkriegszeit, der  sich  das „Institut für Sozialforschung“ widmete („Studies in Prejudice“) , stiegen zugleich Wohlstand und die Möglichkeit zum Massenkonsum. Hatte sich der autoritäre Charakter solidarisch mit dem  Kollektiv der Arbeiterschaft identifiziert („Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will“), so orientieren sich die  Angestellten und die aufgestiegenen Facharbeiter nun an  Normen, Konventionen, Meinungen und Verhalten der anderen, wobei der Standard des Waren- und Kulturkonsums der „Überflussgesellschaft“ Maßstab für den Lebensgenuss ist. Triebverzicht wie in der Zeit der industriellen Körperarbeit wird nun obsolet. Die Soziologie spricht hier vom „konventionellen Charakter“, dem man aber eine weitaus schwächere Ich-Struktur zuerkennt als  dem  

 autoritären Charakter. Die mit den 80er Jahren aufkommenden sozioökonomischen Analysen des „narzisstischen Charakters“  (Lasch, Sennett und Horst-Eberhard Richter) entdecken eine auf das Innere des Subjekts selbst bezogene Verarbeitung von Frustrationserfahrungen in der Konsum- und Arbeitswelt.. Der pathologische Narzissmusbegriff, den der Psychoanalytiker Otto Kernberg schon 1978 erklärt hat, kann aber helfen, den gesellschaftlichen Begriff zu definieren. Der narzisstische Charakter ist ein Produkt der „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz), wonach vom Arbeitnehmer ein hohes Maß individueller Kreativität, emotionales Engagement, unkonventionelle  Elemente in seiner Biographie, kurz - ein einzigartiges arbeitendes Mitglied der Gesellschaft ist, das seine Produkte profitabel für das Unternehmen macht. Diese funktionalisierte Individualität ist nun wahrlich ein Opfer der „Ticket“-Gesellschaft. Im Unterschied zu den anderen Sozialcharakteren ist sein Ich am schwächsten und eher für emotionalisierende faschistische Einstellungen („Halbewahrheiten“) offen..

.Die Leipziger Autoritarismus-Studie kommt nach Schulz zu folgenden Ergebnissen.
der narzisstische Sozialcharakter dominiert in Beschäftigungsverhältnissen mit gesicherter gesellschaftlicher Integration. Dort ist „die Entgrenzung von Arbeit und Freiheit und die damit einhergehende In-Funktion-Setzung der Triebe statt ihrer Unterdrückung funktional“. Der konventionelle Charakter, der 49,4 % aller Charaktere umfasst, weist auch eine gesicherte gesellschaftliche Integration auf; dazu gehören gewerkschaftlich abgesicherte FacharbeiterInnen, BeamteInnen und AngestellteInnen im öffentlichen Dienst, Es gibt aber hier eine Zone des Prekariats, die meistens maschinell und bürokratisch arbeitet. Der autoritäre Charakter (27,3 %) gehört zu einer Zone prekärer Beschäftigungsverhältnisse ; er ist von Angst vor sozialem Abstieg gepeinigt; dazu gehören auch die aus der Integration Exkludierten. Auch hier spielt nicht mehr die Familie eine Rolle, sondern fundamentalistische Religiosität und Kontrollierende Verwaltung, z.B. Jobcenter (Schulz, S. 282 f.).

Mit der Sozialstruktur  der grundsetzlich gesetzwidrig handelnden Gruppen befassen sich Maurits Heumann und Oliver Nachtwey In „Regressive Rebellen“. Der Soziologe Robert K. Merton hat sich mit dieser Randgruppe der Gesellschaft eingehend befasst. Die Rebellion dieser Gruppe „ist durch eine grundlegende Ablehnung des gesellschaftspolitischen Institutionengefüges gekennzeichnet und manifestiert sich in (subkulturellen) Organisationsformen“. (S. 388) Mertons empirische Recherchen ergeben, dass die „Rebellen“ hart und fleißig arbeiten, aufstiegswillig sind, aber nur zu bescheidenem Wohlstand gelangen. Vor allem empfanden sie sich nicht gerecht belohnt und anerkannt. Ihre Biographien weisen häufigen unfreiwilligen Berufswechsel, Beziehungsabbrüche zu Verwandten und Freunden, isoliertes Alttagdasein auf. Sie bilden den „deprivierten Teil der Bildungs- und Arbeitergesellschaft der 1960er und 1980er Jahre“ (S. 390). Ein großer Teil „wirkt angehängt“. Wegen ihres häufigen Scheiterns des gesellschaftlichen Aufstiegs geraten sie in eine „subversive Fundamentalopposition zur vorherrschenden sozialen und politischen Ordnung“ (S. 394). Die Autoren bezeichnen das als den „mentalen Modus antiautoritärer Meuterei gegenüber liberalen Normen“ (S. 394), die für rassistische und antisemitische Vorurteile und latente Gewalttätigkeit offen ist. In der Auseinandersetzung mit Behörden, der Polizei und Politikern rationalisieren sie ihre Haltung als berechtigt und Nachgiebigkeit gegenüber staatlichen Autoritäten als Schwäche. Ihren oft kruden Selbstrechtfertigungen, z.B. Pressevertreter pauschal als Handlanger ausländischer Flüchtlinge zu diffamieren und zu attakieren, oder Weltverschwörungen zu glauben, hat Adorno sie den „Spinnern“ und nicht den typischen Rebellen zugerechnet, die utopische politische Ziele verfolgen, wie es die Antiautoritären der 68er Bewegung taten. Wichtig ist, dass sie nach außen hin das Bild eines konventionellen Kleinbürgers abgeben können.

Zunächst ist man erstaunt, das Thema „autoritäre Elemente“ auf die politische Linke zu beziehen, wie es Tom David Uhlig in seinem Beitrag „Aufstehen für die Regression“ tut. Vielfach ist in den anderen Aufsätzen aber schon angeklungen, dass  der „Hass auf die Differenz“  bei rückwärts gerichteter kollektiver Identität  auftritt, weil sie sich nicht mit der universalistischen Idee von individueller Freiheit auseinandersetzen will. Vor allem bei Karin Stögner war davon die Rede. Uhlig kritisiert nun bei den Linken, an der Bewegung „Aufstehen“,  eine populistische Tendenz, dass soziale Gerechtigkeit durch eine autoritativ verordnete Einheitsfront gesichert werden soll, weil sie wisse, dass nur sie das Richtige tue und nicht die anderen. In diesem Denken werde die Kritik am Milieu des international operierenden neoliberalen Kapitalismus  verkürzt als „Feindbild“ des Egoismus gegen die „einfachen Arbeiter“ ausgespielt.  Mit der romantischen Verklärung einer natürlichen Gemeinschaft der Arbeiterschaft und dem Vorwurf, die neoliberale Gesellschaft sei ein künstliches  Gebilde „wurzelloser Kosmopoliten“ (S. 380/381) könne man das allem zugrundlegende Kapitalverhältnis und die Beziehung zur Arbeit nicht ändern.

.Abschließende Würdigung

Wir haben hier nicht alle Essays besprochen. So fehlen z:B. Beträge über autoritäre Geschlechterverhältnisse und über den narzisstischen Charakter im Islam. Viele Definitionen beginnen mit der Berufung auf die frühen Studien zum autoritären Charakter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (Löwenthal, Fromm, Adorno, Horkheimer) aber erweitern sie durch empirische soziologische Forschungen über die heutigen Sozialcharaktere. Neben autoritären Sozialcharakteren finden wir heute vor allem narzisstische Charakterdispositionen in der Gesellschaft. Hier haben die Mitarbeiter der Leipziger Institute zur Autoritarismusforschung die psychoanalytische Sichtweise mit der Milieuforschung und mit der  Kritik an den neoliberalen Beschäftigungsverhältnissen verknüpft. Manchen Aufsätzen hätte es gut getan, Hannah Arendts Studien zur Autorität einzubeziehen. Autoritäre Verhältnisse sind Verhältnisse ohne Autorität. Kapitalistische Produktions- und Arbeitsverhältnisse sind da zumindest ambivalent. Die Führungs“elite“ mag zwar über eine funktionale Autorität verfügen, aber sicher über keine personale. Wenn man Adornos Analysen des Ticket-Denkens untersucht, so wird man nirgends auf  eine Auseinandersetzung um die universellen Werte von Gleichheit und Freiheit treffen, die der Mündigkeit des Menschen diente.  
 

Gedanken zur Zeit (13)

16.12 2022

Kann Literatur eine spirituelle Botschaft haben?
Das Sterntaler-Märchen.

Viele von Ihnen kennen das „Sterntaler“-Märchen der Brüder Grimm. Darin heißt es, das kleine Mädchen sei „gut und fromm“. Unter „gut“ denken wir, dass
das Kind keine negativen Eigenschaften hat, dass es eine liebevolle und gütige Gesinnung hat und rechtschaffen lebt. Das Wesensmerkmal dieses Mädchens, „fromm“ zu sein, können wir  ähnlich wie das Gute verstehen. Im Allgemeinen bringen wir „fromm sein“ mit Hingabe an den Gottesglauben in Verbindung. Auch wenn rundherum Böses geschieht, ist ein frommer Mensch unbeirrt von der Liebe zu Gott erfüllt und lässt sich nur von ihr in seinem Tun und Lassen führen. Er kalkuliert und berechnet nicht, wenn er anderen Menschen begegnet, sondern er sieht sie unvoreingenommen mit kindlicher Unschuld ebenfalls als Geschöpfe Gottes.

Gutartigkeit und Frommsein offenbart sich als Mitgefühl für die Not anderer, bei der man nicht an eigene Vorteile oder Interessen denkt, sondern nur daran, dem anderen in seiner Bedürftigkeit zu helfen als wäre man selber der andere. Dieses Mitgefühl ist nur jemandem möglich, der selbstlos liebt. Mit anderen Worten, das ist jemand, der nicht egoistisch ist.
Aus Mitgefühl zu handeln erzeugt im Inneren ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit und des Glücks. Man macht dem eigenen Selbst eine Freude dadurch, dass man dem anderen durch die Hilfe glücklich macht. Selbstlose Liebe ist ein wirksames Mittel, sich beizeiten bewusst zu werden, das eigene Glück nicht vom Besitz von Dingen, Gütern oder Objekten abhängig zu machen, indem man sich mit ihnen identifiziert, denn alle diese Güter sind vergänglich und spätestens im Tode kann muss man sie hergeben. Damit ist nicht gemeint, dass man Güter und Objekte nicht wertschätzen soll, die zur Existenzsicherung notwendig sind. Es ist damit die Verdinglichung des eigenen Bewusstseins gemeint.
Den Ursprung des Mitgefühls  aus psychologischer Sicht zu beschreiben, ist nicht befriedigend. Wohl können die Eltern des Sterntalerkindes ein Vorbild für seine Selbstlosigkeit gewesen sein; aber die Quelle des Mitgefühls ist eine innere Kraft, die in jedem Menschen schon vor der Geburt als Potential vorhanden ist, auch wenn es die Lebensumstände nicht vermögen, dass sich diese Kraft in der Welt äußert. Mit dem Verstand ist sie nicht zu fassen, aber ihre Wirkung kann  anderen zu vernünftigen und moralisch gutem Verhalten verhelfen. In den Veden heißt diese Kraft das „Selbst“ oder der Atman.
Die Bhagavadgita sagt  von dieser Kraft, dass sie nicht nur keinen Dank vom anderen erwartet, sondern dass sie nur wirkt, wenn man „von allen Betätigungen mental (innerlich, nicht äußerlich) zurückgetreten ist“, denn „sie handelt nicht und verursacht kein Handeln.“  (V/13) Diese Kraft ist etwas Überpersönliches. Sie wird in den Veden  als „Göttlicher Geist“ bezeichnet und in der Bhagavadgita wie folgt charakterisiert: (II/20)

Nicht entsteht er, nicht vergeht er;
Wie er war, so bleibt er immer,
Ungeboren, unvergänglich;
Stirbt der Leib auch, er stirbt nimmer


Sobald man sich bewusst als handelnd Mitfühlender wahrnimmt, kommt das Ich-Bewusstsein (Ego) dazwischen und das Innere verliert seine Natur. Zum Beispiel fängt man an, zwischen Menschen, die man liebt und denen, die einem gleichgültig sind, zu unterscheiden.  Mitgefühl ist aber selbstlose Liebe..
 
Von dem „göttlichen Geist“ wird das Sterntaler-Mädchen geführt. Dass es „nackt“ dasteht, zeigt uns das geistige göttliche Bewusstsein, das keine weltlichen, persönlichen Verkleidungen braucht. Und nur in Momenten solchem, aus selbstloser Liebe von weltlichen Dingen und Gedanken entblößtem Sein, kommt die Gnade Gottes herab und beschenkt das Kind.

In der gegenwärtigen Welt werden wir kein vollkommenes Sterntaler-Mädchen finden. Aber wir können immer wieder Menschen begegnen, die wenigstens vorübergehend dem Impuls zu selbstloser Liebe folgen. Das Märchen muss  kein Märchen bleiben, wenn wir es als Erinnerung nehmen, wie sehr wir uns noch entwickeln können, dem „göttlichen Geist“ in uns zu folgen und zu tätigem Mitgefühl fähig zu werden. Dazu aber müssen wir uns der eigenen egoistischen Neigungen bewusst werden und sie künftig  vermeiden.  Wir können zu Gott in uns

ehrlich beten, uns dabei zu helfen.

Das arme Mädchen wird mit einem Strom von Goldtalern belohnt, die aus dem  Universum herabkommen. Verstehen wir dieses Bild spirituell-symbolisch, dann wird auf Erden tätige Barmherzigkeit von Gott reich belohnt, denn Mitgefühl ist selber schon eine Gottesgabe.
Meister Eckhart erinnert uns in einer seiner Predigten „Vom Unwissen“, was dieses transpersonale Selbst ist. Wenn man den wahren unschätzbaren Schatz des Wahren Selbst in sich entdecken will, muss man das durch den Verstand und über sinnliche Wahrnehmung erlangte Wissen überschreiten. Er sagt:
„…wenn Gott in dir göttlich leuchten soll, dazu fördert dich ein natürliches Licht keineswegs, es muss vielmehr zu lauter Nichts werden und völlig ausgehen; und dann kann Gott mit seinem Licht leuchten und bringt all das mit sich, das dir ausgegangen ist, und tausendfach mehr und neue Form dazu, die alles in sich schließt.“
Nichts anderes sagen die Bhagavadgita und die Upanishaden. Ein unvergängliches Glück steht uns offen, wenn wir, obwohl wir irdische Dinge weiterhin wertschätzen, und gleichzeitig bewusst sind, dass sie Gaben, Schöpfungen des allpräsenten, alles durchdringenden und alles erhaltenen Gottes sind. Selbstlose Liebe ist ein Weg, Glückseligkeit zu erfahren und sich reich zu fühlen wie der Geist des Sterntaler-Menschen.

 

Gedanken zur Zeit (12)
27.11 2022

Hans Magnus Enzensberger
geboren 11. 11. 1929, gestorben 24. 11. 2022

Eine persönliche Erinnerung

Persönlich habe ich Hans Magnus Enzensberger (HME) im September 2018 kennengelernt. Da war er auf Gut Nantesbuch bei Penzberg zu Gast und las aus seinem Gedichtband „Die Geschichte der Wolken“ vor. Als er den Zuhörerraum betrat, wurde es hell. Nicht durch die Sonne, sondern durch ihn. Ich war überrascht, wie jugendlich dieser 89jährige Poet war.
Er las seine Gedichte mit heiterer Stimme, nonchalent, ohne Prätention vor und versetzte uns Zuhörer in eine gelöste und wache Stimmung. Die Gedichte waren aus demselben Geist: gelassene, leicht-sinnige flüchtige  Wechselfälle des Lebens wie die Wolken:

Eine Minute lang nicht hingeschaut,
schon sind sie das, plötzlich, weiß,
blühend ja, aber wenig handfest -
ein wenig Feuchtigkeit, hoch oben,
etwas Unmerkliches, das auf der Haut
hinschmilzt: rasanter Übergang
von Phase zu Phase – schön und gut.
Doch auch die Physik der Wolken

hat nicht alles im Griff.
Im Zweifelsfall „nimmt man an“,
„ist der Auffassung“. Schleierhaft,
die Regengallen, Fallstreifen,
Lichtsäulen, Halos. Weiß der Himmel,
wie sie es machen. Eine Spezies,
vergänglich, doch älter als unsereiner.

Nach der Lesung ging ich vor das Haus. Dort saß er: ein zarter, weißhaariger, lebhaft schauende blaue Augen, zu Späßen aufgelegter alter Herr und gab Autogramme. „Goethe, der auch über Wolken schrieb, hätte seine große Freude an den Gedichten gehabt“, sagte ich zu ihm. Er lachte und sagte: „Ja, ich kann doch nichts anderes:“

Bis zu dem Tag im September hatte ich seit den Jahren zwischen 1968 und 1970 die Werke Enzensbergers nicht mehr mitverfolgt. Die praktische Politik war mir wichtiger. Erst als ich Deutschlehrer wurde, begegneten sie mir wieder, das war 1969. Damals las ich  seine rebellischen und polemischen Gedichte und Essays im „Lesebuch. Deutsche Literatur der sechziger (und siebziger) Jahre“ aus dem Wagenbach-Verlag. Seine Gedanken waren dort mit gleichgesinnten Autoren versammelt, wie Grass, Walser, Handke, Kunert, Rühmkorf, Fried, Delius, H.M. Novak und anderen. Noch im Gedächtnis ist mir sein ironischer, das Bürodeutsch persiflierender „vorschlag zur Strafrechtsreform“. Auch im „Tintenfisch“, dem Jahrbuch für Literatur, gleichfalls im Wagenbach-Verlag erschienen,  konnte man seine Texte lesen. Manche Gedicht behandelte ich im Unterricht, z.B. den „middle class blues“ (1964 erschienen). Andere populäre Gedichte aus seiner Zeit der linken Aktivitäten der apO waren „An alle Fernsprechteilnehmer“, „Die Macht der Gewohnheit“ oder „Lesebuch für die Oberstufe“, das sehr an Brechts Lyrik erinnert. Brecht und Brentano waren seine Vorbilder fürs eigene Schreiben.

Ein wunderbares Buch, das Enzensberger herausgegeben hat, ist das „Museum der modernen Poesie“. Ich habe es 1961 kurz nach dem Erscheinen gekauft und behüte es bis heute sorgfältig. Es gibt übrigens einen youtube-Film von 1960 mit einem Interview des Hessischen Fernsehens mit dem 31jährigen Enzensberger, in dem er das soeben erschienene „Museum“ aus dem Regal zieht und kommentiert. Dieses Buch enthält Gedichte von einhundert Lyrikern aus aller Welt (außer Asien und Afrika, was im Vorwort begründet wird) und aus der Zeit von 1910 bis 1945. Die Gedichte sind in Originalsprache wiedergegeben und ins Deutsche übersetzt, bzw. übertragen, z.T. auch von Enzensberger. Manche Lyriker, von denen ich noch nie etwas gehört und gelesen hatte, gewannen mein Herz, z.B. Alberti, Lorca, Hikmet, Kavafis und Ungaretti.
Dass Enzensberger  auch ein glänzender polemischer  Essayist war, wird man nun in vielen Nachrufen lesen. Er veröffentlichte vor allem im „Kursbuch“, dessen erster Herausgeber (beim Suhrkamp-Verlag) er von 1965 bis 1970 war. Die ersten Essays befassten sich mit den Themen der 68er Studentenbewegung, z.B. „Berliner Gemeinplätze“ (in Kursbuch 13, 1968) oder „Von der Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums“ (im Kursbuch 45, 1976). Weithin bekannt wurde sein Radio- Essay „Die Sprache des „Spiegels““, in dem er den Jargon des Spiegels kritisiert, der auf alle Nachrichten angewendet werde und dadurch ihren wahren Wert verschleiere.

Die Begegnung mir Enzensberger hat mein Interesse für die neueren Veröffentlichungen geweckt, auf die ich zum Schluss noch eingehen möchte.
Ein höchst spannendes und vergnügliches Buch, ganz im Sinne des klassischen „Prodesse et Delectare“,  sind die 99 „literarischen Vignetten“ über Autoren des 20. Jahrhunderts  (bei Suhrkamp 2018). Wie sie lebten, litten, überlebten, welche Schrullen sie hatten, zu welchem Widerstand sie in der Lage waren, welche Erfolge und Mißerfolge sie hatten – darüber und viel mehr schreibt HME in kurzen biographischen Abrissen mit Humor oder mit spitzer Feder, kurzweilig und ohne Umschweife auf den Punkt kommend, der die Würde dieser Kollegen und Kolleginnen des Autors achtet. So schreibt er z. B. über das tragisch-verrückte Leben des Johannes R. Becher, über das leidvolle Leben von Imre Kertecz, über das absurde Dasein von Andre Breton. Ohne die Vignette über Hans Sahl hätte ich nie dessen Biographie „Memoiren eines Moralisten“ gelesen.
Eine Reverenz an Diderot ist das Notizbuch „Fallobst“ (2012 erschienen), dessen Motto an die Leser damals gerichtet u.a. lautet: „Sie zwei Stunden lang zu unterhalten, ohne mich zu langweilen und ohne Ihnen etwas zu sagen“ und hinzugefügt von Augustinus: „Grande profundum est ipse homo“.
Sprachlich meisterhalft ist dies eine bunte Sammlung von Vignetten, Aphorismen, Glossen, Erinnerungen, kürzester Prosa  über alles, was irdisches Leben ausmacht, zusammengestellt am Ende des langen glücklichen  Lebens eines Intellektuellen, wie wir in Deutschland schon lange keinen hatten.
Uns zum Ende bleibt dieses hintersinnige „Rätsel“ (aus: „Rebus“, Gedichte, 2009):

Ein Meer größer als das Meer,
und du siehst es nicht.

Ein Meer, in dem du schwimmst,
und du spürst es nicht.

Ein Meer, das an deiner Brust rauscht,
und du hörst es nicht.

Ein Meer, in dem du badest,
und du wirst nicht naß.

Ein Meer, aus dem du trinkst,
und du merkst es nicht.

Ein Meer, in dem du lebst,
bis du begraben wirst.

 

Gedanken zur Zeit (11)
22 04. 2022

Mein Lieblingsbild

Luca Signorelli: Resurrezione (Capella di San Bruzio im Dom von Orvieto)

Dieses in der Zeit von 1500 bis 1504 gemalte Fresko hat das uralte „Stirb-und-werde“-Motiv zum Inhalt. Wie meistens in der Renaissance-Malerei verbindet auch dieser Maler im Darstellen des nackten Menschen das Studium  anatomisch plastischer Proportionen in verschiedenen Körperhaltungen mit einem spirituell-religiösen Gedanken.
Im Vordergrund des Bildes zwängen sich Menschen hervor ins Freie aus Spalten in der Erde, die hier als plane und graue Fläche zwei Drittel des Bildes einnimmt. Einige stemmen ihre Ellenbogen auf den Boden und drücken sich nach oben, andere, die schon weiter hochgekommen sind, drücken sich mit den Händen ab bis sie auf der Erde stehen können. Manche von ihnen sind so weit, so dass sie ein Bein aufsetzen und mit Armen und einem Bein das zweite Bein, das noch im Boden steckt,  nachziehen können. Die völlig Wiederauferstandenen freuen sich am neuen Leben und tanzen und strecken dabei die Arme empor zum Himmel. Der Himmel ist wie die Erde eine plane, aber blassblaue Fläche. Eine Gruppe von drei Menschen – zwei Männer mit einer Frau in der Mitte – umarmt und stützt sich gegenseitig, die Köpfe liebevoll einander zugeneigt. Stilles Glück und Frieden strahlt ihre Haltung aus.
Überblicke ich das ganze Bild, so sehe ich ein Crescendo der Aufwärtsbewegung der Menschen: aus der Tiefe der Erde schieben sich die vorderen mit dem Oberkörper hervor, während die mittleren Leiber  sich schon bis zum Becken emporgedrängt haben, und im Hintergrund tanzen und schreiten die völlig von der Erdenschwere befreiten Menschen paarweise oder allein. Und zwischen ihnen stecken Tote, blass und fahl gemalt, im Boden, so dass nur ihre Schädel und Schultergerippe hervorscheinen. Es ist nicht klar, ob sie im Tod bleiben, oder ob sie sich im „statu nascendi“ befinden.

Vom Leiden und der Anstrengung, die es macht, sich aus einem Verwesungsprozess in der Erde zu lösen, ist allerdings an den Körpern und den Gesichtern nichts zu erkennen. Sobald die Menschen ihre Köpfe und Schultern aus den Erdspalten gezwängt haben, sind sie erwachsen, kräftig und gesund. Die Vitalität ist von Anfang an da, ist alterslos, so dass sie das Werk der Befreiung relativ mühelos ohne Mithilfe eines Dritten, etwa Gottes oder eines Engels oder eines Heiligen vollziehen können.  Daran zeigt sich der Glaube an die autonome, selbstherrliche Natur des Menschen, der es im Kreise der Menschenfamilie schafft, sein neues Leben, seine Renaissance selbst zu wollen und zu vollenden. Noch nicht einmal eine helfende Hand eines Mitmenschen, der in der Auferstehung schon weiter ist, streckt sich jemanden entgegen,, der noch tief in der Erde steckt. Das Göttliche erscheint in diesem Fresko allenfalls in der Schönheit und Kraft der Leiber. Es ist inkarniert.
Gott hat natürlich dem Menschen seine Geschlechtlichkeit gegeben, aber in diesem Werk Signorellis ist sie nur angedeutet. In diesem Punkt  harrt sie noch der Vollendung. Oder soll das heißen, dass der Mensch nach der Auferstehung androgyn ist?

 

Gedanken zur Zeit (10)
15. 04. 2022

Grenzen der Macht

Im Jahr 1930 erschienen von Bertolt Brecht in Berlin die „Geschichten vom Herrn Keuner“. Eine der Geschichten heißt „Maßnahmen gegen die Gewalt“. Nicht nur wegen des Kriegs in der Ukraine ist dieser Text bedeutsam, sondern für jedes Leben unter totalitären tyrannischen Verhältnissen.
In der Geschichte werden verallgemeinernde Typisierungen verwendet, z.B. „Zeit der Illegalität“, „die Gewalt“, „der Agent“. Die Geschichte bezieht sich auch nicht auf eine konkrete historische Situation, sondern auf alle Lebensverhältnisse, in denen Menschen unter einem Gewaltsystem leben müssen, einem System, in dem es keine funktionierende unabhängige Rechtsprechung, keine praktisch geltenden Gesetze gibt, welche die Freiheit und das Lebensrecht des Individuums schützen. Deshalb ist dies eine Parabel. In diesem System sorgen „Agenten“ für dessen Erhalt: Polizisten, Mitglieder von Regierungsparteien, Kollaborateure, Geheimpolizei etc.
Unter solchen Lebensverhältnissen stellt sich für jeden die Frage, wie er leben will. Soll er sich wehren und Widerstand leisten? Soll er mit der Macht paktieren? Soll er still halten? Soll er Kompromisse eingehen?
Wie wir die Sache auch drehen und wenden, jeder von uns kommt nicht daran vorbei, gegenüber Machtmissbrauch und Gewalt der persönlichen, selbstverantwortlichen Moral zu folgen, welche Art von Zivilcourage oder Widerstand er wählt (und ob er überhaupt wählt). Da gilt genauso, wenn wir der Not und dem Leid eines anderen in demselben Gewaltsystem Aug in Aug gegenüberstehen, denn erst im anderen erkennen wir uns als Mensch. Diese Dialektik hat Hegel in der „Phänomenologie  des Geistes“ dargelegt. 
Der Text plädiert für den Widerstand im Stillen nach außen, aber nicht nach innen. Der Grund ist die Angst um das eigene Leben. Der Herr „Egge“ wartet mit dem offenen Widerstand so lange, bis der Agent stirbt, will sagen, bis das tyrannische System zugrunde geht.
Wie aber sieht es mit der Freiheit des autonomen Subjekts zu moralischem Handeln aus, ist doch Autonomie ein Beziehungsphänomen zu dem anderen; was sich im Mitgefühl für den anderen zeigt, und zwar vor jeder ich-bezogenen Überlegung. Und auch vor jeder kodifizierten geltenden gesellschaftlichen Ordnung? Im deutschen Strafgesetzbuch §323 c (1) steht gleichwohl unterlassene Hilfeleistung für eine andere Person, die in Not ist, unter Strafe. Nach dem Text dürfte sich Herr Egge der spontanen Hilfe eines anderen enthalten . Das muss er folglich letztlich mit seinem Gewissen ausmachen, obwohl er sich auch strafbar macht.

Machthaber dieser Welt fürchten im Grunde den Menschen als freies, autonomes und selbstbestimmtes Individuum nur dann nicht, wenn sie den Missbrauch dieser Freiheit zwar sanktionieren, ihm aber andererseits die Freiheit belassen, die in ihm angelegte Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu entwickeln, ja vielleicht ihm  zuzumuten. Menschlicher und glücklicher wird eine Gesellschaft, wenn sie moralisches, selbstbestimmtes Handeln öffentlich anerkennt und ermutigt.

 

Gedanken zur  Zeit (9)
09. 04. 2022

Der Krieg. Einige Gedanken

Zu  Beginn dieses Kriegs Rußland gegen die Ukraine hatte ich einige  Angstträume. In letzter Zeit sind sie nicht mehr wiedergekommen. Anfangs war ich neugierig auf Nachrichten über den Krieg gewesen, aber dann wehrte ich mich dagegen und wollte meine bisherige Alltagswelt mir und meiner Frau erhalten. Ich las also wieder Bücher mit vernünftigen Themen, setze meine schriftlichen Arbeiten an einer persönlichen Literaturgeschichte fort, gehe weiterhin ins Sportstudio, gehe zum Seniorenchor und meditiere länger, das vor allem.
Ich las solide politologische und historische Analysen über die Entwicklungen in Rußland, der Ukraine und in der Nato, z.B. von Zumach, Paech, Schlögel, Kappler und Lessenich (in SZ vom 8.4.22).  Dabei wunderte ich mich, wie sehr westliche Politiker die hegemonialen Absichten Putins übersahen. Es kann sein, dass das eigentlich Erschreckende an diesem jetzigen Konflikt ist, dass man ihm nicht mehr mit Vernunft beikommt, dass eine Seite der Kriegspartei nicht mehr durch vernünftige Einsichten und Argumente erreichbar ist. Dieses Ende vernünftiger Dialogfähigkeit, die im Großen und Ganzen bisher die Weltpolitik in Balance gehalten hat, ist zu Ende, vorerst jedenfalls. An ihre Stelle ist Gewalt getreten.

Es gibt nun viele Solidaritätsdemonstrationen für die Ukraine in den westlichen Ländern. Ich bewundere die vielen Teilnehmer, dass sie auf diese Weise den Ukrainern Mut zum Widerstand machen. Und natürlich hilft die Teilnahme an Demonstrationen auch gegen das Gefühl eigener Ohnmacht. Ich habe das Gefühl eigener Ohnmacht nicht und auch deshalb kein Bedürfnis, an den Demonstrationen teilzunehmen. Wahrscheinlich vergeht das Ohnmachtsgefühl (und vielleicht auch eine latente Angst vor einem Übergreifen des Kriegs in den Westen), wenn man praktische Hilfe für die Flüchtlinge leistet.  Möglich, dass ich diese Ohnmachtsgefühle auch deshalb nicht habe, weil ich Migranten aus Afrika und Syrien unterstütze. Das sind jene Flüchtlinge, denen seit 2015 unter jämmerlichen, schikanösen und rechtswidrigen Bedingungen die Integration in die deutsche Gesellschaft versagt wird. Daran hat auch die jetzige Regierung noch nichts geändert.

Und ich habe auch deshalb kein Angst- und Ohnmachtsgefühl, weil ich seit längerer Zeit eine Friedensmeditation praktiziere, entweder täglich allein zu Hause, oder in einer Gruppe oder online mit tausenden anderen gemeinsam. Diese Meditation hat die spirituelle Lehrerin Sri Mata Amritanandamayi  Devi, auch als „Amma“ bekannt, entwickelt.  Man sollte die Wirkung solcher Meditationen, seien es buddhistische, hinduistische oder die Transzendentale Meditation (TM), nicht gering in ihrer Wirkung schätzen. Man hat erforscht, dass meditierende Gruppen  auf ihr gesellschaftliches Umfeld eine heilende Wirkung ausüben; z.B. ging die Kriminalitätsrate in ihrer Umgebung zurück. Heilsame Gedanken, die von Meditierenden ausgesendet werden, sind Energieschwingungen, die gute Wirkungen auf das Bewusstsein anderer haben, z.T. über große Distanzen hin weg.
Natürlich bringt es keinen Schritt weiter zu einer friedlichen Welt, wenn man einen Gegner verteufelt. Es ist besser, man schaut sich ehrlicherweise seine eigenen negativen Gefühle, Gedanken und Taten an  und projiziert sie nicht auf andere.  Man sollte aber deshalb nicht „in Sack und Asche gehen“, sondern sich (und dem anderen) Fehler vergeben und etwas Gutes daraus lernen.

 

Gedanken zur  Zeit (8)
01.04.2022

Liebe in Zeiten des Krieges

Die Erde wird  überzogen von einem schwarzen Mantel des Krieges und der zerstörten Natur. Noch gibt es einige Löcher in diesem schweren dunklen Gewebe: die blaugrünen Meere, schneeweiße Berge, smaragdgrüne Wälder, satte Felder, freundliche Wohnungen friedlich lebender Völker. Aber sie werden von Jahr zu Jahr weniger. Was kann da die Liebe tun?

Jeder kann an seinem eigenen Ort beginnen. Wut, Hass, Rache, Missgunst, Egoismus, Selbstmitleid – alle diese düsteren Gefühle und Gedanken wohnen in jedem von uns mehr oder weniger. Ohne sie zu kennen, sie sich einzugestehen und überwinden zu wollen,  werden wir die Schönheit der Liebe nicht erkennen.

Die innere Dunkelheit kommt immer in Beziehung zum anderen an den Tag; wer im stillen Kämmerlein lebt, wird sie nicht wahrnehmen, denn sie schläft im Unterbewusstsein. Ohne die eigene Anstrengung, der Liebe im Alltag  zu folgen, wird es nicht gehen. Und die Liebe ist uns gegeben, sonst würden wir nicht leben. Sie lebt in uns, oft verborgen noch unter dem Unbewussten.

Werde ich also auf Rache verzichten, wenn mich jemand verletzt hat?  Werde ich mir und dem andern Fehler vergeben? Werde ich in jedem anderen wie in mir dasselbe Bedürfnis nach Lebenwollen erkennen, als Mensch unter Menschen anerkannt, wertgeschätzt, um meines wahren Selbst  willen und nicht wegen meiner Persönlichkeit willen zu lieben und geliebt zu werden?  Werde ich anstatt an mich zuerst zu denken, an den andern denken, an sein Wohlergehen?

Die Heiligen Weisheitslehrer wie Christus, Meister Eckhart, Jakob  Böhme, der Heilige Franziskus, Sri Ramana Maharshi,  Chögyam Trungpa Rinpoche, der Dalai Lama, Stylianos Atteshlis (Daskalos) und in unseren Tagen Sri Mata Amritanandamayi Devi – sie alle sagten es immer wieder und lebten es uns vor: dem andern selbstlos (egolos) zu dienen, ohne Rum, Dank, Anerkennung zu erwarten, das sei wahrer Gottesdienst.

Ich kann dies nicht von andern verlangen, wenn ich es selbst nicht versuche. Mein Ich ist zu schwach, die Befreiung von der Ichsucht allein zu schaffen. Kleine Schritte kann ich tun, aber auch dabei kann die  Anhaftung an mein Ich mich täuschen, wenn ich stolz darauf bin, was alles ich auf dem spirituellen Pfad schon gelernt habe. Deshalb rufe ich um Hilfe Gott an und danke ihm, dass er Sri Mata Amritanandamayi Devi (Amma)  in diesen dunklen Zeiten auf die Erde gesandt hat. Ihrem Beispiel selbstloser Liebe zu allen Wesen will ich folgen.  Ohne die Gnade Gottes, nur aus unserer Kraft allein, werden wir kein Glück und keinen Frieden finden, aber ohne eigenes Bemühen, werden wir auch nicht offen sein, die Gnade Gottes und Ammas zu bemerken.

Lokah Samastah Sukhino Bhavantu – Mögen alle Wesen in allen Welten glücklich sein.
 

Gedanken zur  Zeit (7)
31.03.2022

Fensterblick

In meiner Jugend fuhr ich oft mit der Berliner S-Bahn des Abends durch die Innenstadt. Ganz dicht traten da die nackten und schmutzigroten Ziegelsteinwände der hohen Miethäuser an die Zugfenster. Dann glitten ab und an die elektrisch beleuchteten Fenster von Wohnungen an meinem Auge vorbei. Wenn ich  kurz hineinblickte in Küchen oder andere Zimmer, lösten diese lichten Bilder  jedes Mal eine Vorstellung von trauter Geborgenheit aus; dort wollte ich sein, aber nichts wissen von der Realität der armseligen Vorkriegsmöbel darin, nichts wissen, wer da wohnt und was die Menschen dort tun, sagen und fühlen. Nur das Bild eines friedvollen zuhause Seins leuchtete in mir auf und beglückte mich für Sekunden.
Dieses Glück des Scheins kehrt auch wieder bei abendlichen Zugfahrten vorbei an Dörfern und kleinen Städten  mit hinter den Fensterscheiben hervorleuchtendem Licht. Als würden dort liebende Eltern oder Freunde in der Wärme der Räume sein und ich gehörte so selbstverständlich wie die Dinge um sie herum dazu.
Der „schöne Schein“, er kommt meistens schlecht weg in der Philosophie. Nicht so bei Ernst Bloch. Er lässt die Versprechen der Fassaden gelten und vergleicht sie in den „Spuren“  mit einem Wasserspiegel, der den blauen Himmel darüber widerspiegelt. Aber: „Der See lächelt, indes seine Hechte andre Gesichter zeigen und die gefressenen Karpfen nicht an Gott glauben:“  (aus: Gruß und Schein. In: Spuren, S. 178, Suhrkamp Taschenbuch 550, 1985)

 

Gedanken zur  Zeit (6 )
20.02.2022

Autoritätsmissbrauch

Die Amtsautoritäten der katholischen Kirche werden zurzeit von Straftaten des sexuellen Missbrauchs belastet. In allen Fällen liegt ein doppelter Schaden vor: zum einen die Verletzungen der körperlichen und seelischen  Unversehrtheit junger Menschen, zum andern die Zerstörung der traditionalen Autorität der Institution Kirche. Ersteres muss selbstverständlich strafrechtlich in jedem Einzelfall geahndet werden; denn die Kirche steht nicht außerhalb der Rechts- und Verfassungsordnung unserer Demokratie.  Das Zweite kann nicht durch weltliche Gerichtsbarkeit bestraft werden. Wegen der Religionsfreiheit können die Amtsautoritäten nur untereinander Sanktionen verhängen; der einzelne Bürger kann aber durch Kirchenaustritte oder die Aufkündigung der Unterstützung kirchlicher Einrichtungen, z.B. der Caritas, die gravierenden Zustände in den kirchlichen Institutionen missbilligen. An seinem persönlichen religiösen Glauben muss sich nichts unbedingt ändern.

Ich möchte hier aber auf einen gruppenpsychologischen Kontext hinweisen, die die Straftaten in der Kirche begünstigte.

Diese Vergehen fanden (und finden wohl noch immer) in relativ nach außen abgeschlossenen Einrichtungen statt, z. B. Internaten und Klöstern statt. Aber auch in Alten- und Pflegeheimen und psychiatrischen Anstalten wird immer wieder von Übergriffen des Personals auf die Bewohner berichtet.
In diesen Systemen ist die Gefahr von  autoritären Herrschaftsstrukturen groß. Sie bieten Außenstehenden ein Janus-Gesicht: Einerseits geben die herrschenden sozialen Normen innerhalb der Systeme dem Einzelnen Schutz gegenüber der Außenwelt und das Gefühl der Zugehörigkeit, sie stehen auch im Dienste der Fürsorge und Bildung entlang christlicher-humaner Werte. Andererseits verlangen sie Unterwerfung und Gehorsam gegenüber den sozialen Normen. Der gespaltene Charakter dieser sozialen Verhaltensregeln führt zu einer Spaltung des Gewissens. Mitglieder dieses Systems, vor allem bei den funktionalen Autoritäten, haben ein gutes Gewissen  bei ihren rigiden Methoden der Machtausübung; von außerhalb dieser Systeme gesehen sind sie dagegen gewissenlos und das Subjekt der beztreuten Menschen entwürdigend. Je enger ein solches System seine Grenzen  zieht, desto strenger wirkt das Systemgewissen bei den Opfern durch Schuldgefühle, während die Täter sich unschuldig fühlen.

Bei den autoritären Verhältnissen  innerhalb dieser Sozialsysteme, unter denen die Jugendliche und Kinder leben,  spielt die Unterdrückung der Sexualität eine zentrale Rolle. Der sexuelle Trieb ist besonders für Heranwachsende etwas Natürliches ebenso wie Hunger und Durst und seine Befriedigung die intensivste Erfahrung von Glück und Freiheit. Das Bedürfnis nach sexueller Lust und erotisch-sexuellem Kontakt wird in den geschlossenen Einrichtungen aber nicht als Aspekt des Liebesbedürfnisses der jungen Menschen gesehen, sondern negativ als Ausdruck egoistischer Gier, (fälschlich negativ  mit „Triebhaftigkeit“ benannt) der unter sozialer Kontrolle stehen, entwertet  und sanktioniert werden muss. Da sich aber die sexuelle Triebnatur des Menschen nicht völlig unterdrücken lässt, sucht sie sich verzerrte, perverse und mit Schuldgefühlen belastete  Formen des Selbstausdrucks. Das ist besonders der Fall, wenn pädagogisch Verantwortliche, z.B. Lehrer, Erzieher, Geistliche keine reife psychosexuelle Entwicklung gemacht haben. Und das trifft auf manche Geistliche zu, die außerdem noch unter den Beschränkungen ihrer sexuellen Bedürfnisse durch das Zölibat leiden.

Man sollte aber die Schuld sexuellen Fehlverhaltens nicht auf die Mängel der kirchlichen und anderen sozialpädagogischen Einrichtungen allein beziehen, sondern auf das gesamtgesellschaftliche Umfeld. In den letzten Jahren sind erschreckend viele Fälle sexuellen Missbrauchs in Deutschland aufgedeckt worden. Es gibt viele psychologische und soziologische  Fakten, die hier eine Rolle spielen, wie z.B. die Verbreitung der Pornographie mit Kindern über das Internet und die Kinderprostitution . Aber es gibt leider nur ganz wenige Studien, welche die gesamtgesellschaftliche Entwicklung in den Blick nehmen, die solche kriminellen Verhaltensweisen begünstigen. Ich empfehle dazu die Studie von Frigga Haug: Neoliberalismus und sexuelle Deregulierung – Was ist eigentlich sexueller Missbrauch. In: Forum kritische Psychologie 1997. 

 

Gedanken zur Zeit (5)

Monique Levi-Strauss: Im Rachen des Wolfs. Meine Jugend in Nazi-Deutschland. Darmstadt 2021

Eine Buchbesprechung

Die folgende Inhaltsskizze entnehme ich dem Text auf der Rückseite des Buchumschlags: „Als jüdisches Mädchen macht Monique in Nazi-Deutschland Abitur. Sie war als 13-jährige mit ihren belgisch-amerikanischen Eltern in die Höhle des Löwen gekommen. Es gelingt ihr sogar, ein Medizinstudium zu beginnen. Kurz vor dem Kriegsende ermöglichen amerikanische Offiziere der Familie die Flucht in die USA. 1947 kehrt Monique schließlich nach Frankreich zurück, wo sie den Weg um den Intellektuellenzirkel um Jacques Lacan, die Schauspielerin Sylvia Bataille und den Maler Andre Masson findet“
Dort Lernt sie auch den späteren Anthropologen Claude Levy-Strauss kennen und heiratet ihn.

Das Buch beginnt mit der Beschreibung eines vielfältig vernetzten Familiensystems, das sich über Belgien, die USA, England und Frankreich erstreckt. Monique wächst in einem katholisch-jüdischen Elternhaus auf. Väterlicherseits stammt die Familie aus dem katholischen Belgien; mütterlicherseits stammt sie aus einer amerikanisch-jüdischen Familie, die sich durch Heirat vor allem in und um Paris etabliert. Die wohlhabende große Familie bietet der jungen Monique zu Beginn der Zeit von 1936 bis 1947 Geborgenheit, Schutz und eine freie Entfaltung ihrer intellektuellen Fähigkeiten.
Das Faszinierende an der Lebensbeschreibung ist, wie Monique die ständigen Orts- und Schulwechsel anfangs in Frankreich und später in Belgien und Deutschland mutig und selbstbewusst bewältigt. Trotz es vehementen Widerstands von Seiten seiner jüdischen Ehefrau und der Tochter Monique war der Vater mit der Familie ins Ruhrgebiet gezogen, wo er eine Stelle als Ingenieur bekommen hatte. Wegen der Bombenabwürfe der englischen Alliierten war die Familie gezwungen, in  die engen Verhältnisse bei einer deutschen Familie umzuziehen.
Man fragt sich bei der Lektüre, wie es sein konnte, dass diese jüdisch-katholische Familie nie von Deutschen denunziert wurde. Natürlich verhielt sie sich vorsichtig und verbarg ihre jüdische Herkunft. Außerdem sprachen die Eltern, Monique und ihr Bruder gutes Deutsch und hatten belgisch-amerikanische Pässe. Monique beeindruckte die Lehrer durch ihre Sprachbegabung, ihren Bildungshunger und die guten Noten auch in Mathematik, die sie vor allem der Nachhilfe ihres Vaters verdankte. Während dieser chaotischen Zeiten fand die Mutter stets Wege, die Familie mit dem Allernötigsten zum Essen zu versorgen und sogar inmitten des Krieges mit Monique im Zug nach Berlin zu fahren, um für die Tochter die ministerielle Zulassung zum Medizinstudium in Düsseldorf zu erhalten.
Trotz aller Widrigkeiten und Ängste hatte Monique einen Blick für die Schönheiten der Natur, der Kunst, der Bauwerke und Orte. Sie schloss Freundschaften mit deutschen Mitschülern und Studentinnen und bekam das Wohlwollen ihrer Lehrer. Aber eine „Heldin“, wie im Nachwort zu diesem Buch gesagt, war sie nicht. Vielleicht gibt eine Aussage von ihr Antwort auf die Frage, warum sie und ihre Familie mit dem Leben in dieser Zeit davonkam: „Aber gegen den einzelnen Deutschen empfand mein Vater keinen Hass, auch meine Mutter, mein Bruder und ich nicht. Auch die Deutschen uns gegenüber nicht.“ (S. 53)

Das Beeindruckendste an diesem Buch ist für mich, dass Monique Levy-Strauss die schrecklichen Situationen in einem sachlichen, fast unterkühlten und nüchternen Stil erzählt. Besonders die Schilderung der medizinischen Versorgung der Bombenopfer vom KZ Buchenwald wird undramatisch erzählt und wirkt gerade dadurch so grauenvoll. Monique enthält sich aller moralischer Verurteilungen der Menschen an dieser Stelle wie auch im ganzen Buch; aber natürlich wünscht sie sich nichts sehnlicher als die Niederlage Hitlers. Der sachliche Erzählstil ist auch dem langen zeitlichen Abstand  von dem Erlebten geschuldet. So wirkt die Erinnerung an das Familienschicksal wie ein objektives Dokument.
Zum Schluss erfährt man einen  Einblick in die intellektuelle Gesellschaft der Künstler und Wissenschaftler, in die Monique in Paris nach dem Krieg gerät.

 

Gedanken zum Geist der Zeit  (4)

ERICA CHENOWETH:

CIVIL RESISTANCE
What Everyone Needs To Know

Oxford University Press, New York 2021
ISBN: 135798642               
               

Besprechung von Joachim Vieregge
(November 2021)

Erica Chenoweth hat eine Berthold Beitz Professur in Human Rights & International Affairs an der Harvard Kennedy School of Government. Im Bereich Außenpolitik zählt Chenoweth 2013 zu den Top 100 Global Thinkers  „for proving Ghandi right“. Chenoweth gewann2014 auch den Karl Deutsch Award, der jährlich von der International Studies Association für Studierende unter 40 Jahren vergeben wird, die die bedeutendste Wirkung auf dem Gebiet der Politik und der Friedensforschung hatten. Chenoweth ist Ko-Autorin von „Why Civil Resistance Works“ , das den American Political Science Association`s Woodrow Wilson Preis gewann, der angesehendste Preis auf diesem Gebiet.

Chenoweth und Mitarbeiter haben die Daten von insgesamt 627 revolutionären Kampagnen aus aller Welt im Zeitraum von 1900 bis 2019 untersucht und wissenschaftlich ihre Entstehungsgründe,  Taktiken, Organisationsstrukturen und Ergebnisse aufgearbeitet. Wider allgemein verbreiteter Erwartung ist der Hauptbefund, dass 50 % aller gewaltlosen Revolutionen erfolgreich verliefen, aber nur 26 % aller gewaltsamen.  

Das Anliegen des Buches ist es, darüber aufzuklären, wie gewaltloser Widerstand aufgebaut sein muss, um erfolgreich zu sein und das Leiden von Menschen unter einem autoritären System zu beenden.
Chenoweth definiert eingangs zivilen Widerstand folgendermaßen: „Ziviler Widerstand ist eine Form kollektiver Aktionen, die auf den politischen, sozialen oder ökonomischen Status quo einwirkt, ohne Gewalt oder die Androhung von Gewalt gegen Menschen zu benutzen. Er ist organisiert, öffentlich und ausdrücklich gewaltlos in seinen Mitteln und Zielen.“ (S. 1) Und weiter sagt sie, er sei „eine aktive Konflikt-Methode, bei der unbewaffnete Menschen eine Vielfalt koordinierter, nicht-institutionalisierter Methoden – Streiks, Protest, Demonstrationen, Boycotts, Aufbau alternativer Einrichtungen und viele andere Taktiken -  benutzen, um einen Wandel herbeizuführen und ohne den Gegner zu verletzen oder damit zu drohen.“ (S. 2)

Einfacher Protest auf der Straße ist noch kein ziviler Widerstand. Ziviler Widerstand  sei ausgesprochen ungehorsam und handle außerhalb der bestehenden Institutionen, Gesetze und Systeme, die weitgehend als illegitim und unrechtmäßig angesehen werden. (S. 3ff) Zu den Widerstandsformen gehören illegale Demonstrationen, Streiks, Arbeitsverweigerung, Verweigerung von Steuerzahlungen, Blockaden von Banken, Boycotts von Produkten und Besetzungen der Büros von Politikern – alle außerhalb eines Herrschaftssystems stehende Widerstandsformen, mit denen eine Bewegung  für ihre politischen, sozialen, ökonomischen und moralischen Forderungen gegenüber Gesetzlosigkeiten und Misshandlungen eines herrschenden Status quo eintritt.

Auf der Grundlage einer Shortliste von Beispielen gewaltloser Widerstandsbewegungen und ihrer Methoden von der Antike bis heute, kann man ableiten, dass für den Erfolg einer gewaltlosen Kampagne wesentlich ist, ob sie die „Stützen einer Gesellschaft“ („pillars of support“) auf ihre Seite gezogen hat. Zu diesen Subsystemen gehören z.B.: die Sicherheitskräfte (militärisch/paramilitärisch/Polizei), die wirtschaftlichen Eliten; Handelsgesellschaften, Lobbyisten; die Bürokratie (öffentlicher und diplomatischer Dienst); die Medien; religiöse Autoritäten; Bildungseinrichtungen; Influenzer im Kulturbereich; Gewerkschaften; Rechtsanwaltskammern; Stiftungen.
Alle Analysen von erfolgreichem zivilem Widerstand, die Chenoweth zitiert (z.B. von Martin Luther King und Maciej Bartkowski)  stimmen überein, dass er strategisch geplant und vorbereitet werden muss, ehe man Menschen mobilisiert. Die Autorin erläutert ausführlich dazu vier Hauptfaktoren: eine breite Teilnehmerbasis; den Absprung der Loyalität zu den bisherigen Systemunterstützern; taktische Innovationen; die Beibehaltung des Widerstands bei anhaltender Repression. (S. 82ff.) Ging es Bewegungen um den Umsturz einer nationalen Regierung, so waren sie erfolgreich, wenn 10 % der Bevölkerung an ihnen teilnahmen. Ging es den Kampagnen um das Erreichen nur eines, aber das System veränderndes Ziel, waren im Durchschnitt 3,5 % der Bevölkerung dauerhaft  Unterstützer der Bewegung. Chenoweth schlägt die Faustregel „Masse der Teilnehmer multipiziert mit der Geschwindigkeit der Aktionen“ für den Erfolg einer Bewegung vor.

Ich möchte hier angesichts der aktuellen Gewaltsysteme in Ägypten, Weißrußland, Türkei,  Myanmar und nun auch wieder im Sudan noch auf die Rolle der Sicherheitskräfte in diesen Ländern hinweisen.
 Bei Widerstand gegen die Systeme zeigt sich, dass das Militär stets eigene Interessen hat, und dass diese, wenn man sie in die strategische Planung nicht einbezieht, die gewaltlose Kampagne unterlaufen, oder eine Konterrevolution gewaltsam beginnen.  Die militärischen Eliten sind oft an Wirtschaftsunternehmen beteiligt, z.B. in Ägypten. Sie lassen sich eher für die Widerstandsbewegungen gewinnen, wenn es ethnische oder soziale (familiäre) Bindungen mit den Protestierenden gibt oder wenn die Vorgesetzten sie unfair behandelt haben, oder wenn es Konkurrenzen unter den Einheiten gibt,  oder wenn die Soldaten schlecht bezahlt wurden.

Natürlich diskutiert Chenoweth auch das Verhältnis von gewalttätigem zu gewaltlosem Widerstand. (S. 148ff) Immer wieder kommt es bei gewaltlosen Bewegungen vor, dass  Randgruppen gewalttätige Ausschreitungen ausüben. Eine Datenanalyse für die Zeit von 1945 bis 2013 ergab, dass bei mehr als 80 % der großen Massenbewegungen, die eine Diktatur stürzen wollten, es am Rande der Demonstrationen nur einen geringen Anteil von gewalttätigen Auseinandersetzungen (Straßenkämpfe z.B.) gab. Aber etwa 20 % der gewaltlosen Bewegungen vermieden konsequent Gewalt gegen Personen und gegen Sachen. Genannt werden dazu die Kampagnen in Honduras 1944, CSSR 1989, Mongolei 1989, Georgien 2003, Thailand 2005 und 2013, Togo 2012 und andere. Die Daten würden auch zeigen, dass von 384 gewaltlosen Widerstandsbewegungen, die auf einen Regierungsumsturz zielten, nur 13 % in bewaffnete Konflikte mündeten. Bei Bürgerkriegen ist das anders: nur 6,2 % von ihnen waren in der Anfangsphase gewaltlose Bewegungen (Beispiel: Algerien 1954).
Bedeutend ist auch der Befund, dass autoritäre Systeme (Bsp.: Syrien) wissen, dass friedliche Massenbewegungen sie mehr gefährden als gewalttätige Aktionen. Gewalt auf Seiten der Bewegung legitimiert das gewalttätige Vorgehen der Regierung gegen die gesamte Bewegung. Deshalb schleusen autoritäre Systeme auch oft  auch „agents provocateurs“ in die Reihen der Menschenrechts- und Friedensbewegungen, um sie zu Gewalttätigkeiten zu verleiten, damit die Sicherheitskräfte einen Vorwand gegenüber der Öffentlichkeit haben, mit unverhältnismäßiger Gewalt zurückzuschlagen. Gewalt am Rande der Kampagnen spielen den Regierenden in die Hände und schwächen die Solidarität weiter Teile der Bevölkerung mit der Bewegung.
Man fand auch heraus, dass nach gewaltlosen Aufständen die Gräueltaten und Morde der Regierungen weniger häufig auftreten, als wenn es gewaltsame Bewegungen gegeben hat. Die internationale Gemeinschaft (UNO) ist nur selten direkt militärisch eingeschritten, um solche Gräueltaten zu verhindern (Beispiel: Ost-Timor 1999)
Letztlich stehen die Organisatoren der Bewegungen vor der schwierigen Aufgabe, Gewalt in ihren Reihen zu verhindern.

Im 4. Kapitel(S. 182ff)  befasst sich das Buch mit dem Problem, wie ziviler Widerstand auf die Gewalt und Unterdrückung reagieren kann. Dabei wird untersucht, wie riskant ziviler Widerstand ist und wie er seine Taktik den staatlichen Repressionen anpassen kann. Dabei gibt es kein einheitliches Bild, denn jede Bewegung trifft auf spezifische Situationen. Besonders sympathisch empfand ich die Diskussion , wie eine Bewegung mit der Angst der Teilnehmer umgeht. Musik, Tanzen, Clownerie und Straßentheater helfen, mutig zu sein. Man denke an das berühmte Living Theater aus New York. Chenoweth erwähnt Trainingsgruppen, welche die Teilnehmer psychologisch, gruppendynamisch und spirituell auf die Ziele, Taktiken und Gefahrensituationen während der Aktionen vorbereiten.

Im 5. Und letzten Kapitel untersucht das Buch die Zukunft des zivilen Widerstands. In den Statistiken zeigt sich nach 2010 ein Rückgang von erfolgreichen Widerstandsbewegungen. Viele herrschende politische Systeme sind gegenüber Bewegungen von unten widerstandsfähiger geworden. Sie haben ihre Methoden verfeinert, mit denen sie die Bewegungen schon in deren Anfangsstadium infiltrieren, indem sie vor allem die Überwachung der digitalen Kommunikation in der Bevölkerung  perfektionieren und  über Fake-Infos die Bewegungen verwirren. Es gibt noch eine ganze Reihe von destruktiv wirkenden Taktiken der Regierungen gegenüber den zivilen Widerstandsbewegungen. (S. 227ff.)  Ich nenne hier nur die Bewertung der Bewegung und einzelner führender Köpfe als vom Ausland gesteuert oder sie seien Terroristen. Dabei verstärken sie in der Bevölkerung Ängste und schon vorhandene alte Vorurteile. Unter den „Stützen der Gesellschaft“ erweisen sich die öffentlichen Medien dabei als Helfer.  Ausländische Medienvertreter und NGOs werden von den Orten der Konflikte ferngehalten (Bsp. Israel-Palästina). Auch die Bewegungen selber hätten sich verändert. Sie seien der Quantität nach kleiner geworden und sie würden sich zu sehr nur auf Massendemonstrationen verlassen und die Taktiken der Nicht-Kooperation vernachlässigen. Die Verwendung digitaler Medien bei der Organisation von Widerstand würden außerdem die Armen der Gesellschaft ausschließen, die über die Technologien nicht verfügen.
Trotzdem, so Chenoweth, seien plötzlich sich formierende Widerstandsbewegungen unter erschwerten Bedingungen nicht ausgeschlossen, wie Beispiele in Polen, Brasilien, Indien oder unter Trump in den USA zeigen. Die Organisatoren der Bewegungen setzen ihrerseits auf „smart anti-repession“-Methoden, wie z. B. nicht so spektakuläre Formen zivilen Ungehorsams (Beispiel: Ägypten). Außerdem bleibe es im kollektiven Gedächtnis einer Gesellschaft, wenn sie eine Widerstandsbewegung einmal zustande brachten, die immerhin einen Bürgerkrieg verhindert habe. Wo aber die Verwüstungen in einem Land (wie z.B. derzeit in Äthiopien)  total sind, da ist die Aussicht auf Demokratie Null.

„Wie haben sich die Bewegungen selber auf die Übergänge vorbereitet, nachdem sie einen erfolgreichen Durchbruch erreicht haben?“ fragt Chenoweth gegen Ende ihrer Analysen.  Mich erinnert diese Frage an das Buch von Gene Sharp „Von der Diktatur zur Demokratie“ (engl. 1993), der zivile Widerstandsbewegungen im Nahost, Fernost und auf dem Baltikum untersucht hat. Sharp betont wie auch Chenoweth, wie notwendig es sei, dass eine Bewegung schon während ihrer Aktivitäten eine Platform von demokratischen Einrichtungen, alternativ zum bestehenden antidemokratischen System, aufbauen müsse. So werde ein Machtvakuum vermieden, in das alte, nicht demontierte Stützen der Gesellschaft hineindrängen. Es brauche fast eine Generation, um neue demokratische Tugenden, unabhängige Einrichtungen, Gewaltenteilung, die Reform der Sicherheitskräfte und eine Verfassung aufzubauen, die gleiche Rechte für alle gewährt und schützt. (S. 243). Als Beispiel wird die Solidarnosc-Bewegung in Polen genannt. Aber selbst dann gibt es keine Sicherheit, dass eine Folgegeneration die Erfolge nicht wieder verspielt.

Am Ende ihrer Arbeit nennt  Erica Chenoweth fünf Dinge, die jeder über zivilen Widerstand wissen sollte. Ich fasse sie sinngemäß zusammen:
Ziviler Widerstand ist „eine realistische und effektivere Alternative zum gewaltsamen Widerstand….“
Er ermöglicht die Aufweichung der Unterstützersysteme der Gegner.
Er entwickelt Formen demokratischen Umgangs miteinander, die den Menschen einen Vorgeschmack dafür geben, wie ein Leben in Freiheit und Demokratie sein könnte.
Er war über die vergangenen hundert Jahre effektiver als der gewaltsame Widerstand und hat auch keine humanitären Krisen mit sich gebracht.
Er ist nicht immer erfolgreich, aber er ist wirksamer als es seine Verleumder wahrhaben wollen.

Dies Buch füllt die Wissenslücke über den Wert des zivilen Widerstands für eine zivilisierte Weltbürgerschaft.
Darüber zu informieren liegt nicht im Interesse von Regierungen und auch nicht der Massenmedien. Sie propagieren lieber Gewalt bei der Durchsetzung ihrer Interesse, auch gegen gewaltlosen zivilen Widerstand.

 

Gedanken zum Geist der Zeit (3)

Zu Tolstois Roman „Auferstehung“
01.11. 2021

Entgegen dem sonstigen Feingefühl, mit dem Tolstoi die inneren Vorgänge in den Liebenden Maslowa und Nedljudow  erzählt, bleibt er merkwürdig flach, als es zum Abschied der beiden am Ende des Romans kommt. Man erfährt kaum etwas, was im Innern der Maslowa vorgeht, so dass nicht klar wird, warum sie eine Heirat mit Nedljudow ablehnt und sich für den Mitgefangenen entscheidet. Dass diese Entscheidung für Nedljudow, auf die  er sein Leben bis dahin ausgerichtet hat, schmerzlich ist, hätte der Autor  tiefer erzählen können, so wie er es in früheren Abschnitten des Romans getan hat.
Die religiöse, spirituelle Wendung in der Seele Nedljudows wirkt etwas gewollt. Es bleibt mit den Zitaten aus der Bergpredigt nur angedeutet, worin dieser Ausweg aus den Dilemmata des weltlichen Gesellschaftssystems  für Nedljudow besteht.  Es bleibt auch offen, wie das Leben beider, der Maslowa und Nedljudows weitergeht. Ein Folgeroman war von Tolstoi nicht geplant.

Während ich die Schilderungen über die Zustände in den russischen Gefängnissen und während der Gefangenentransporte nach Sibirien las, dachte ich an ähnlich schlimme Verhältnisse in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln und in Libyen. Die Lebensstile der politisch-bürokratischen Eliten in Europa und ihrer subaltern Zuarbeiter zeigen gewisse ähnliche narzisstische Züge wie die russische Oberschicht zur Zeit Tolstois.
Insofern ist der Roman eine große Parabel der Unmoral und der Gottesferne der Menschen aber auch der „Auferstehung“  zum Guten.

Indem sich der Erzähler dem von der russischen Feudalaristokratie verachteten und entwürdigten Volk zuwendet und sich den elenden Lebensverhältnissen von Einzelnen genauer widmet, gibt er ihnen die Würde zurück. Er nimmt sich inmitten des Massenelends  einzelner  der von der  Justiz kriminalisierten  und entrechteten Opfer an.  Dadurch trägt er sein Schuldgefühl ab, das nicht nur durch den Missbrauch der Liebe zur Maslowa entstanden ist, sondern auch durch seine Beteiligung an der Ausbeutung der Knechte und Dienstmägde als Großgrundbesitzer.
Zwar erleben wir durch die Brille Nedljudows, wie korrupt und selbstsüchtig die Oberschicht in jenem Staat lebt, die Generäle, die Richter, die Staatanwälte, die Gouverneure und ihre Familien. Und dennoch werden sie nicht in Bausch und Bogen verurteilt; denn es gibt unter ihnen immer wieder Charaktere, die zu Mitmenschlichkeit fähig sind. Auch das große Heer der subalternen Dienstklasse mit ihren Lakaien, Gefängnisbeamten,   Wachleuten etc. lernt Nedljudow kennen. Sie setzen nicht nur das unmenschliche Desinteresse der Herrschenden um, sondern pervertieren es nochmals durch persönliche Grausamkeiten.

Und merkwürdig: immer wieder zeigen sich an den dunkelsten Ecken des Riesenreichs lichte Ort der Liebe, der Güte, des Mitgefühls und der Vergebung – nicht zuletzt im Wesen der Maslowa und Nedljudows.
 

Gedanken zum Geist der Zeit (2)

Wenn Freundschaften zu Ende gehen
16. 10. 2021

Jede Freundschaft hat eine eigene Geschichte. Einige bleiben eine sehr lange Zeit bestehen. Aber manche, von denen man glaubte, sie würden nie zu Ende gehen, sterben einen schleichenden Tod. Eine zu Ende gehende Freundschaft schmerzt. Mag sein, dass das nur einer der Freunde bemerkt und dem anderen gar nicht bewusst wird.

Es beginnt damit, dass die Zeitabstände des wechselseitigen Kontakts allmählich länger werden, ohne dass man einen Grund dafür erkennt. Man fühlt sich von einem Freund oder einer Freundin im Ungewissen gelassen. Bei einer wahren Freundschaft, in der man stets verbindlich und mitfühlend miteinander umgegangen ist, ist das nicht hinnehmbar. Zwar ist man eine Freundschaft aus freien Stücken eingegangen, auch wenn gegenseitige Sympathie und Gemeinsamkeiten der Weltanschauungen und Interessen am Anfang standen – aber die  freundschaftliche Verbindung bringt die Erfahrung wechselseitiger Verbindlichkeit mit sich. Man spürt das an der Wirkung auf die Seele, dass das Tun des einen das Tun des anderen ist, so wie Hegel es für die Dialektik der Liebe beschreibt. Indem ich den anderen in seinem Dasein wertschätze, schätze ich mich selber in meinem Dasein wert und umgekehrt. Das schließt natürlich wechselseitige Wertschätzung des Freiraums für Veränderung ein, auch der Freundschaft selber.

Ist man es einander schuldig, sich über diese Veränderungen auszutauschen? Ich meine ja, wenn es eine Freundschaft ist. Verändert sich der eine ohne den anderen dabei zu sehen,  fehlt es an Wertschätzung des anderen und ist verletzend. Aber, dialektisch wieder gesehen, ist das Übergehen oder die Missachtung des Freundes
oder der Freundin auch eine Selbstverletzung. Das eigene wahre Selbst, das zu einer aufrichtigen und mitfühlenden Freundschaf fähig war, verletzt man selbst, wenn man nur das Eigene sieht. Das ist ein Zeichen von Egoismus.
Zwar kann ich dem anderen nicht auferlegen und Schuldgefühle machen, um eine Freundschaft fortzusetzen, die der andere nicht mehr will – aber voneinander Abschied nehmen und dankbar für das gemeinsame Geteilte zu sein, das ist der Freundschaft würdig.

 

Gedanken zum Geist der Zeit (1)

Gedanken zum Zeitvergehen
13.10.2021

In den Wochen der öffentlichen und privaten Bewegungseinschränkungen, die mit dem Infektionsschutzgesetz mehr schlecht als recht  von der staatlichen Gewalt begründet wurden – in diesen Wochen erlebe ich eine seltsame, aber mir doch nicht so ganz neue Zeiterfahrung.

In der Zeit vor den Einschränkungen  konnte ich viele den Geist beweglich und anregend haltende Begegnungen mit der Welt erleben: Freunde besuchen und mit ihnen über Politik, Kultur und private Beziehungen diskutieren, konnte politische Arbeitsgruppen besuchen, Vorträge über Literatur und Psychologie besuchen, konnte ins Theater und zu Konzerten gehen, in meinem Senioren-Chor mitsingen, ins Fitness-Center gehen, Kunstausstellungen besuchen, mit meiner Frau durch die City Münchens bummeln und im Restaurant essen, in Buchläden stöbern, kleine Reisen in Deutschland und Italien unternehmen und, und, und.
Das heißt nun nicht, dass ich früher täglich unterwegs war; auch vor der Krisenzeit war ich oft zu Hause beschäftigt.  Aber die Möglichkeit, jederzeit mich zu geistig und emotional anregenden Begegnungen außer Haus hinzubewegen, gab den Zeiten zu Haue den angenehmen Beigeschmack von Wahlfreiheit .

Dem ist nun seit einigen Wochen nicht mehr so. Zwar dürfen und können wir von dort, wo wir wohnen, allein oder zu zweit längere Sparziergänge  in der Umgebung machen, aber mit Freunden können wir nur telefonisch sprechen. Und diese Lebenssituation lässt mich eine eigenartige Zeiterfahrung machen.
Weil die abwechslungsreiche Welterfahrung nun fehlt, in der man sich selten der Zeiterfahrung bewusst wurde, spüre ich den täglichen Ablauf von sonst so nebenbei mitlaufenden Handlungen viel deutlicher: das tägliche Aufstehen, die Morgenwäsche, das Frühstück, Toilettengänge, das Sitzen am Schreibtisch und das Lesen und Schreiben, Musik hören, das Meditieren, das Kaffeetrinken und , und, und. Mir kommt es so vor, als würde die Zeit, da die Freiheitsbewegungen eingeschränkt sind, auf diese täglich sich wiederholenden Aktionen zusammenschrumpfen und sie dadurch viel deutlicher und gewichtiger hervortreten lassen, als sie sonst sind. Sie gewinnen zum einen Bedeutung an sich selber, und zu anderen wird ihr Kommen und Gehen bewusster wahrgenommen. Diese Zeit der Einschränkungen ermöglicht also nun die Erfahrung des Verrinnens der Zeit an sich.
 Mich  beunruhigt diese Vergänglichkeitserfahrung, wenn die Tage, Nächte so schnell vorübergehen, weil mein Geist sich mit den Erlebnissen und Erfahrungen der weiten, vielgestaltigen, lebhaften irdischen Welt nicht mehr befassen kann.
Buddhisten würden sich über derartige Wahrnehmungen freuen und sagen: Nun, lieber Freund: Setz dich hin und meditiere darüber! Denn Leben ist Vergänglichkeit.
Also meditiere ich und dehne die Zeiten aus, die ich dafür täglich reserviere. Je mehr ich das aber tue, umso unheimlicher und merkwürdiger das Phänomen des Vorübergehens der Zeit, denn nun erfahre ich beim Meditieren, dass auch die Gedanken ständig kommen und gehen. An nichts kann man sich da festhalten.

So frage ich mich schließlich: Um des Himmels willen: Gibt es denn nicht mal die Zeit der Zeitlosigkeit, der Unvergänglichkeit? Denn mittlerweile treibt mich  diese dumme Sorge an, die Zeit sinnvoll und richtig zu nutzen. Vielleicht wäre es nicht unter den gegebenen Zeitumständen das Beste, wenn  diese Sorge dafür sorgte, dass sie den Zeittod stürbe?